Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. Christoph Winkler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Winkler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846352861
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unternommen wurden, um Intelligenz näher zu erfassen und zu beschreiben.

      3. Den Ansatz Binets nachzuvollziehen und kritisch zu würdigen.

      4. Wesentliche Momente einer Weiterentwicklung der Intelligenzerfassung und -beschreibung aufzuzeigen.

      Zur Zeit des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert, im Zeitraum zwischen 1890 und 1920, vollzog sich in der Psychologie eine Wende. Aus einer mehr theoretisch ausgerichteten Psychologie, die sich anfangs nur sehr vorsichtig an praktische Aufgaben heranwagte, wurde immer mehr eine angewandte Psychologie. Sie erhielt ihre Impulse im Wesentlichen durch das technisch-wissenschaftliche Denken dieser Zeit (Dorsch 1963, 40 ff).

      Die ersten Psychologen, die sich mehr dem Experiment zuwandten, waren in hohem Maße durch die Physik und Medizin geprägt. Den Grundstein für die Entstehung einer besonderen Diagnostik auf psychologischem Gebiet legte Francis Galton (1822–1911) in einem Laboratorium in London 1884 / 85. Er beschäftigte sich mit der Messung individueller psychologischer Unterschiede und legte den Schwerpunkt auf die Abweichungen vom Durchschnitt. Er schuf damit den Ansatz für eine differenzielle Psychologie. Sein im Jahre 1883 erschienenes Werk trug den Titel: „Inquiries into human faculty and its development“. Ihn interessierten vor allem die menschlichen Fähigkeiten und deren Entwicklung. Galton gab dem Experiment in der Psychologie die besondere Wende zur Testform, indem er z. B. beim Menschen die Hörschwelle feststellen, Gewichte ordnen und Reaktionszeiten messen ließ.

      Bereits in seinem Buch „Hereditary genius, an inquiri into its laws and consequences“ (1869) versuchte er die Hochbegabung messbar zu machen, indem er das Verhältnis feststellte, in welchem der Geniale zur Bevölkerung steht. Galton wandte statistische Methoden auf die Problematik der Vererbung an, indem er das unter dem Namen Gauß-Verteilung bekannte Gesetz aufgriff. Damit war die Grundlage der Normalverteilungs- oder auch Wahrscheinlichkeitskurve geschaffen.

      Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Psychodiagnostik muss auch noch James McKeen Cattell (1860–1944) genannt werden. Er schrieb im Jahre 1890 einen Arikel über „Mental tests and their measurements“. Aufgrund dieses Artikels wird Cattell gewöhnlich als Urheber des Begriffs „Test“ bezeichnet. Bereits 1896 begann Cattell bei Studenten, die sich an der Columbia-Universität immatrikulieren ließen, mit der Überprüfung der Intelligenz. Seine Testbatterie beinhaltete z. B. Maximalgeschwindigkeit der Armbewegung, Bestimmung der Schmerzschwelle bei Druck, Reaktionszeit für Farben, Halbierung einer Strecke nach Augenmaß, Zahl der nach einmaligem Hören behaltenen Buchstaben ...

      Bekannt ist auch die Methode von Hermann Ebbinghaus (1850–1909), der sich mit Lern- und Gedächtnisvorgängen beschäftigte, vor allem im Zusammenhang mit erlebnisneutralen, unvorbelasteten Elementen (Lernen sinnloser Silben). 1897 veröffentlichte Ebbinghaus einen Lückentest als Intelligenztest, der gelegentlich heute noch Verwendung findet (Lück 2013, 59 ff.). Es handelt sich um einen Gruppentest, zu dessen Durchführung lediglich Papier und Bleistift gebraucht werden.

      In Deutschland versuchten Psychiater durch psychologische Versuche, die individuellen Unterschiede vor allem zur Klärung „psychischer Defekte“ sichtbar zu machen. Zu nennen sind hier an erster Stelle Konrad Rieger (1855–1939) und Emil Kraepelin (1856–1926). Sie brachten die experimentell-psychologischen Methoden als erste in die Nervenheilkunde ein. Kraepelin führte an Patienten Versuche durch, über die wir heute (zumindest partiell) geteilter Meinung sein können. Lernvorgänge wurden gemessen, einstellige Zahlen mussten fortlaufend addiert, Zahlenreihen und sinnlose Silben auswendig gelernt werden. Es entstand die Idee, „künstliche Geistesstörungen“ auf dem Wege der Ermüdung, Erschöpfung, aber auch über Stimulanzien und Giftwirkungen zu erzeugen. Versuchspläne weisen darauf hin, dass sich Vpn fünf Tage lang den verschiedensten Arbeiten und Prüfungen aussetzen mussten (Dorsch 1963, 46 ff).

      Der Würzburger Psychiater Rieger arbeitete bereits (1889 / 90) einen Entwurf zur Intelligenzuntersuchung aus, der eine allgemein anwendbare Methode zur Intelligenzüberprüfung darstellte. Gemessen wurden u. a. Wahrnehmung, Gedächtnis, Nachahmung, Assoziation, identifizierendes Erkennen, Kombination.

      Den Ideen zur Überprüfung der Intelligenz fügte Theodor Ziehen (1862–1950) einen sehr wichtigen Gedanken hinzu. Er stellte die Forderung auf, man müsse erst bei allen Aufgaben zur Intelligenzprüfung die Schwankungsbreite ermitteln, bevor man solche Aufgaben verwende. Es genügte also nicht, dass man Tests entworfen hatte, vielmehr mussten sie auch erprobt werden, d. h., es musste experimentell geklärt werden, wie gut oder wie schlecht eine bestimmte Personengruppe die Testaufgaben löste. Dieser Ansatz stellte vor allem im sonderpädagogischen Bereich einen Anlass zur Kritik dar (Defizitbeschreibungen, Wertungen; Kap. 3.4 und 5.2).

      2.3 Der Ansatz Alfred Binets

      Binet blieb jedoch nicht bei Fragen zur geistigen Leistung des Kindes stehen. Er wandte sich vielmehr auch der Erkundung körperlicher Leistungen und deren Abhängigkeit vom Alter zu. Gemessen wurden Muskelkraft, Handdruck, Zugkraft, Sprungkraft, Schnelligkeit, Vitalität, Atmung und Zirkulation. Er experimentierte mit Reaktionsgeräten wie Dynamometer und Ergograph. Um 1900 veröffentlichte er Arbeiten unter dem Titel „Attention et adaptation“. Darin verglich er intelligente und unintelligente Schüler. Binet benutzte dazu eine Testserie mit Gedächtnisaufgaben, Buchstabendurchstreichen, Übertragen von Ziffern, Sätzen und Zeichnungen, ferner sollten taktile Eindrücke unterschieden werden. Seine Idee, ein Stufenmaß der Intelligenz zu schaffen, war damit jedoch noch nicht realisiert.

      Einen entscheidenden Impuls erhielt Binet, als das französische Unterrichtsministerium 1904 eine Kommission einsetzte, die eine Klärung der Frage nach der Unterrichtung geistig zurückgebliebener Kinder herbeiführen und auch einen Unterrichtsplan für „abnorme“ und behinderte Kinder ausarbeiten sollte. In diese Kommission wurde Binet berufen. Von dem Gremium wurde beschlossen, dass ohne pädagogisch-medizinische Begutachtung kein zurückbleibendes Kind aus der Normalschule in die Spezialschule überwiesen werden dürfe.

      Diese Maßnahme war gedacht zum Schutz des Kindes. Willkür und Subjektivität sollten verringert werden. Die zentrale Frage lautete nun: Wie aber soll man begutachten? Binet sollte dieses Problem lösen. Zusammen mit seinem Mitarbeiter, dem Arzt Théodore Simon (1873–1961), brachte er eine Serie von 30 Testaufgaben heraus, die hinsichtlich des Schwierigkeitsgrades so anstiegen, dass die ersten Aufgaben dem niedrigsten Intelligenzniveau und die letzten Aufgaben dem normalen kindlichen Intelligenzdurchschnitt entsprachen. Wurden also alle Aufgaben von einem Kind der entsprechenden Altersstufe gelöst, galt das Kind als „normal“. Die Entwicklung der Intelligenz war altersentsprechend.

      Damit schufen die beiden Wissenschaftler „eine Klassifikation vom Grenzfall der Idiotie über Imbezillität, Debilität, Schwachbegabte zum Normalfall“ (Dorsch 1963, 51).

      Den Testaufgaben ging eine Reihe von Vorversuchen voraus. Man kann unter dieser Rücksicht sogar von einer empirisch orientierten Arbeitsweise sprechen. Es gab auch so etwas wie standardisierte Bedingungen; die Forderungen hierzu lauteten: geringer Zeitaufwand, eindeutige Instruktion, keine Kenntnisaufgabe, keine suggestive Beeinflussung,