Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. Christoph Winkler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Winkler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846352861
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sich anzupassen“ erstreckten, werden u. a. angeführt:

      – Fixierendes Sehen (folgen die Augen des Kindes einer brennenden bewegten Kerze?).

      – Durch Sehen hervorgerufenes Greifen. Gegenstand erkennen (ein Holzklötzchen und ein Stück Schokolade zur Wahl).

      – Befolgen einfacher Befehle (Türe schließen u. a.). Wortverständnis bei Gegenständen (z. B. Kopf, Augen zeigen lassen). Wortverständnis bei Bildern. Vergleich von zwei verschieden langen Linien. Wiederholen von drei vorgesprochenen Zahlen. Vergleichen von zwei verschieden schweren Gewichten. Definieren von bekannten Gegenständen (Zweckangaben). Wiederholen von vorgesprochenen Sätzen mit 15 Wörtern.

      – Erinnerung an vorgelegte Bilder. Zeichnen aus dem Gedächtnis, (geometrische Figur). Wiederholen von mehr als drei vorgesprochenen Zahlen. Längenvergleich mit dem Augenmaß. Ordnen von 5 gleich aussehenden, aber verschieden schweren Gewichten. Ergänzen von Lücken in einem leichten Text mit 7 Lücken. Satzbildung mit drei gegebenen Wörtern.

      – Zeitangabe bei umgestellt bzw. vertauscht gedachten Uhrzeigern. Ausschneidversuch. Definieren von abstrakten Begriffen (Dorsch 1963, 51 f.).

      Damit versteht Binet letztlich unter Intelligenz die Fähigkeit zum guten Urteilen, Verständnis und Denken.

      Binet und Simon schlugen vor, man solle diese psychologische Untersuchung zugleich verbinden mit einer pädagogischen Untersuchung, mit einer Überprüfung des Schulwissens und des allgemeinen Lebenswissens sowie mit einer medizinischen Untersuchung mit allgemein körperlichem Befund und Feststellungen zu physiologischen Funktionen, dem Entwicklungsstand und den erblichen Einflüssen. Milieufaktoren spielten offensichtlich kaum eine Rolle.

      Die Testversuche wurden zunächst an Kindern im Alter von 3–11 Jahren durchgeführt. Die 30-Test-Methode aus dem Jahre 1905 verbesserten die beiden Wissenschaftler infolge neuer Erkenntnisse bald. l908 erschien erstmals die unter dem Namen Binet-Simon weltbekannte und verbreitete Methode der Intelligenzprüfung mit dem Titel: „Le développement de l’intelligence chez les enfants“. Diese Intelligenzprüfung enthielt für jedes Alter zwischen 3 und 13 Jahren Testaufgaben. Die Lösung der Aufgaben eines bestimmten Jahrganges wies darauf hin, dass die entsprechende Intelligenznorm erreicht worden war. Löste ein Kind alle Testaufgaben einer Altersstufe, so entsprach dies dem Intelligenzalter dieser Altersstufe. Löste z. B. ein siebenjähriges Kind alle Aufgaben, die für sieben Jahre vorgesehen waren, so stimmten Intelligenzalter (IA) und Lebensalter (LA) überein, d. h., das Kind verfügte nach der damaligen Interpretation über eine „normale Intelligenz“.

      Einen Intelligenzrückstand von zwei Jahren – später waren es drei – interpretierte Binet mit „geistiger Schwäche“, die eine Einweisung in die Hilfsschule rechtfertigte. So gab es grob dargestellt drei Möglichkeiten:

      IA = LA: durchschnittliche oder normale Intelligenz.

      IA > LA: Intelligenzvorsprung (IV) oder überdurchschnittliche Intelligenz.

      IA < LA: Intelligenzrückstand (IR) oder unterdurchschnittliche Intelligenz.

      Damit gebrauchte Binet zur Charakterisierung der jeweiligen Verhältnisse die Begriffe „Intelligenzvorsprung“ und „Intelligenzrückstand“. Man kann also feststellen, dass Binet die Bezeichnungen Intelligenzalter (IA) und Lebensalter (LA) einführte und die beiden Daten miteinander in Beziehung setzte. Aufgrund dieses Gedankens, Lebensalter und Intelligenzalter zu vergleichen, waren Ansätze für eine „Messung“ (Abschätzung) der Intelligenz geschaffen. Wie bereits dargelegt, beschrieb der Wissenschaftler die Abweichungen von der durchschnittlichen Norm mit den Begriffen Intelligenzvorsprung (IV) bzw. Intelligenzrückstand (IR).

      Indem die Aufgaben ständig bezüglich ihres Schwierigkeitsgrades in Kindergärten und anderen Einrichtungen für Kinder überprüft wurden, kann man sagen, dass Binet den Versuch unternahm, eine auf empirischem Wege entstandene Maßskala aufzuzeigen und zu erproben. Mit Hilfe der genannten Aufgabenstellungen ergab sich eine Möglichkeit zur „Klassifizierung des Schwachsinns“ (unterdurchschnittliche Intelligenzgrade). So kam Binet zur folgenden Einteilung geistig Retardierter („Schwachsinniger“):

      „Der Debile bleibt auf der Intelligenzstufe des 9- bis 10jährigen Kindes stehen. Er kann nicht ohne Beaufsichtigung leben und seinen Unterhalt nicht selbständig erwerben“ (vergleichbar etwa heute mit dem Intelligenzbereich 55–75).

      „Der ,Imbezille‘ bleibt auf der Stufe des 6jährigen Kindes stehen. Er kann weder schreiben noch lesen“ (etwa IA 25–59).

      „Der Idiot steht auf der Stufe des 2jährigen Kindes, das nicht spricht und nicht versteht“ (etwa IA < 25) (Dorsch 1963, 52 f.).

      Im pädagogischen Bereich ist eine solche Einteilung zu kritisieren:

      1. Mit dieser schematischen Klassifizierung verbindet sich die Gefahr, dass die so bezeichneten Kinder „festgeschrieben“ werden, d. h., die Beurteilung bzw. Einschätzung der Intelligenz wird als weitgehend endgültig gesehen.

      2. Der milieutheoretische Aspekt bleibt unberücksichtigt; die Intelligenzentwicklung scheint damit im Wesentlichen von Anlagefaktoren abzuhängen.

      3. Der Versuch einer Charakterisierung menschlicher Leistungen und Fähigkeiten durch die Attribute „Unterhalt selbstständig erwerben“, „weder lesen noch schreiben können“, „nicht sprechen und nicht verstehen“, muss scheitern, weil etwa der Persönlichkeitsbereich völlig unberücksichtigt bleibt, wie z. B. das Gefühlsleben und der musische Bereich, weil insgesamt gesehen die Ausgangsbasis viel zu schmal und zu schematisch ist.

      4. Die Begriffe „Debilität“, „Imbezillität“ und „Idiotie“ werden zwar heute teilweise noch im psychiatrischen Bereich verwendet, ihr Gebrauch sollte aber – nicht nur im pädagogischen Feld – entschieden abgelehnt werden, weil deren Inhalte mit Vorurteilen behaftet sind und damit einen diffamierenden Charakter tragen („Menschen zweiter Klasse“ ...).

      Bei aller Kritik an der Klassifizierung Binets darf nicht der Impuls dieses Wissenschaftlers für die Problematik der Intelligenzprüfung in Vergessenheit geraten. Seine Ansätze stellten einen wesentlichen Fortschritt dar; so etwa der Aufbau der Verfahren nach dem sogenannten „Staffelsystem“ (Staffel- oder Stufenprinzip), d. h., es liegt eine Staffelung des Tests nach steigendem Schwierigkeitsgrad mit ansteigendem Lebensalter vor. Binet überprüfte die einzelnen Aufgaben ständig. Verbesserungen wurden durchgeführt. Noch vor seinem Tode im Jahre 1911 bestimmte er, dass einheitlich für jede Altersstufe fünf Tests verwendet wurden. Für die 11 Altersstufen vom 3. bis zum 13. Lebensjahr wurden insgesamt 59 Testaufgaben eingeführt (vgl. Dorsch 1963, 53).

      Die Forschung und Wissenschaft erkannte Binets Leistung an. Seine Tests und seine Werke wurden in etwa 50 Sprachen übersetzt. Vor allem die Psychiater griffen sein Verfahren, die „Binet-Simon-Stufenleiter zur Messung der Intelligenz“, auf. Binet konnte den mächtigen Aufschwung und den raschen Ausbau seines Systems, aber auch die teilweise heftigen, kritischen Einwände nicht mehr erleben.

      Die Leistung Binets wird sicherlich treffend durch einen Beitrag Groffmanns (1971, 167) charakterisiert:

      Geht man davon aus, dass ein psychologischer Test im Wesentlichen ein objektives und standardisiertes Maß einer Stichprobe von Verhaltensweisen darstellt, so ist im Zusammenhang mit dem Stufentest von Binet und Simon festzustellen, dass diese Definition in einem Maße erfüllt wurde, wie dies vorher nicht der Fall war. Das Verfahren ist in Anwendung und Auswertung standardisiert, beruht auf einer empirisch hergestellten, objektiven Schwierigkeitsordnung der Aufgaben, Die Notwendigkeit von Reliabilität und Validität war erkannt, der Schritt zum Testsystem vollzogen und ein Vorbild psychologischer Messung geschaffen.

      Es begann nun ein rascher Aufschwung der Intelligenzmessung, zunächst am stärksten in den USA.

      Um 1912 versuchte L. M. Terman eine Revision des Stufentests herauszugeben. Aus den Vorarbeiten entstand 1916 die sehr erfolgreiche „Stanford Revision of the Binet-Simon Intelligence Scale“. 1937 wurde diese Revision weiter ausgebaut und als Stanford-Revision