Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. Christoph Winkler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Winkler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846352861
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Störungen, zwischen Störungen und Gefährdungen und zwischen Gefährdungen und Sozialrückständigkeiten fließende Übergänge bestehen können.

      Aufgabe des vorliegenden Buches ist es nicht primär, über eine Grundlageninformation hinausgehend, Probleme und Kritik der aufgezeigten „Beeinträchtigungen“ mit der Vielfalt wechselseitiger Bezüge und Verflechtungen zu diskutieren und zu erörtern. Hierzu sei auf kritische Literatur im Bereich Sonderpädagogik verwiesen, die sich mit Detailfragen bezüglich Beeinträchtigungen, Störungen und Behinderungen unter dem Aspekt historischer und gegenwärtiger Problemstellungen auseinandersetzt.

      Resümierend ist hervorzuheben, dass es nicht nur zum Gegenstandsbereich sonderpädagogischer Diagnostik gehören kann, besondere Strategien der Diagnose in Anlehnung an verschiedene Arten und Schweregrade vorkommender Beeinträchtigungen zu entwickeln, vielmehr wird der Schwerpunkt auf der differenzierten und individuellen Diagnose der kindlichen Problematik und der Bedürfnisse (Bundschuh 2010, 169–178; 2019, 32–42)unter Einbezug des Umfeldes im Sinne des Helfens, Förderns, Kompensierens und des Lernens liegen. Demnach wird die sonderpädagogische Diagnostik in flexibler, dynamischer und differenzierter Weise aktiv werden im Rahmen einer Erziehung unter „erschwerten Bedingungen“ bei vorliegender Behinderung, im Rahmen einer „Fördererziehung“ bei vorliegender Störung, im Rahmen einer „Vorsorgeerziehung“ bei Gefährdung und im Rahmen der „Gesellschaftserziehung“ bei vorliegender Sozialrückständigkeit mit dem Schwerpunkt der Analyse behindernder Bedingungen im Umfeld des Kindes unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingungen.

      Aufgrund dieser weiten Aufgabenbereiche kann es nicht genügen, wenn der im Bereich der Sonderpädagogik tätig werdende Diagnostiker nur psychologisch-diagnostisch „in Aktion tritt“ oder handelt, er muss vielmehr zuerst auch als pädagogischer und didaktischer Fachmann ausgewiesen sein (Bundschuh 2008, 232–241), d. h. es geht um die Vermittlung zwischen Lernausgangslage und Lernen bzw. Lernfortschritt.

      Zusammenfassend gesehen umfasst das sonder- und heilpädagogische Arbeitsfeld unter Berücksichtigung institutioneller Entscheidungsbereiche primär die folgenden Personengruppen:

      1. Kinder, die in früher Kindheit und im vorschulischen Alter als auffällig, teilweise auch als „entwicklungsverzögert“ bezeichnet werden. Pädagogisch relevante Stichworte sind „Früherkennung“, „Früherfassung“ und „Frühbetreuung“, wobei in diesem Zusammenhang auf die ungelöste Problematik der frühen Erkennung bzw. Diagnose und Förderung hinzuweisen ist, d. h. Behinderungen können auch durch Diagnosen erzeugt werden (Bundschuh 2008, 314, 326 ff.).

      2. Kinder, die bei der Einschulung individuellen sonderpädagogischen Förderbedarf aufweisen wie z. B. bei offensichtlichen geistigen, sozialen, emotionalen oder körperlichen Beeinträchtigungen.

      3. Kinder, die in der Regelschule auffällig werden infolge partiellen oder auch generellen Nichtleistenkönnens (Leistungs- und Schulversagen im Hinblick auf den vorgegebenen Lehrplan, an sich ein „Versagen“ der Schule) in Unterrichtsfächern, wobei keinesfalls gesagt ist, dass diese Kinder in eine „besondere Schule“ / Förderschule aufgenommen werden müssen. Andere Möglichkeiten spezieller Hilfe und Förderung wären unterrichtliche Maßnahmen, Änderung der Einstellung von Eltern und Lehrern gegenüber dem Kind, Überweisung an eine Erziehungsberatungsstelle, therapeutische Maßnahmen. Optimal wären wohl Förder- und Stützmaßnahmen durch Regel- und Sonder- bzw. Förderschullehrer in der Grund- und Hauptschule nach einem gemeinsam erstellten Förder- und Therapieplan.

      4. Kinder, die aufgrund ihres Verhaltens in der Regelschule „als nicht mehr tragbar“ gelten. Zu denken wäre dabei an erziehungsschwierige oder verhaltensgestörte Kinder.

      5. Kinder, die irgendwelche die Lernleistung und das Sozialverhalten beeinträchtigende Sinnesschädigungen aufweisen (Hör- und Sehstörungen bzw. -behinderungen);

      6. körperbehinderte oder hinsichtlich ihrer Motorik beeinträchtigte Kinder;

      7. sprachgestörte und -behinderte Kinder;

      8. beeinträchtigte Schüler, die vor der Berufswahl stehen. Ihnen sollte bei der Berufsfindung und -ausbildung geholfen werden.

      9. Allgemein gesehen Kinder, Jugendliche und Eltern, die sich im Rahmen von Erziehung und Unterricht (Lernen) in einer Problemsituation befinden, vielleicht unter behindernden Bedingungen wie z. B. Armut leben, individuelle Beratung, Hilfe und Unterstützung in Erziehungs- und Lernfragen suchen.

      Diagnostik von Behinderung hängt auch von Rahmenbedingungen (auch Langfeldt 2006, 626 ff.) ab, nämlich davon, was man unter „Behinderung“ verstehen möchte. Der Deutsche Bildungsrat (1973, 32) definierte: „Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten soweit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist. Deshalb bedürfen sie besonderer pädagogischer Förderung.“

      Es ist sehr fraglich, ob diese Definition in Zeiten des Bemühens um Integration und Inklusion noch eine Gültigkeit hat. Diese Definition weist auf zweierlei hin:

      – Nicht ein funktionales Defizit macht die Behinderung aus, sondern die Einschränkung, die sich daraus für die gesellschaftliche Integration ergibt.

      – Es besteht eine uneingeschränkte ethische Pflicht zur Förderung.

      Die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) hingegen konzentriert sich weniger auf ein medizinisches Verständnis von Behinderung und Defekten als die traditionelle Beschreibung von Behinderung, sondern berücksichtigt deren soziale Konstruktion. Die der ICF zugrunde liegenden, in Wechselwirkung stehenden Komponenten „Körperfunktionen und –strukturen“, „Aktivitäten und Partizipation“, „Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren“ (Hollenweger / Kraus de Camago 2013, 36 ff.) ermöglichen die Verwendung sowohl positiver wie negativer Begriffe und setzen damit auch deutliche ressourcen- und kompetenzorientierte Akzente. Darüber hinaus werten Göttgens und Schröder (2014, 36) die ICF als „Schlüssel für eine gelingende interdisziplinäre Zusammenarbeit, da das Klassifikationssystem eine gemeinsame Sprache für die am förderdiagnostischen Prozess beteiligten Professionen ermöglicht“.

AnzahlProzent
schulpflichtige Schüler der Klassen 1 bis 10 insgesamt8.941.561100,000
darunter Behinderte mit Förderschwerpunkt:
Lernen (Lernbehinderte)262.3892,934
Sehen (Sehbehinderte und Blinde)6.6130,074
Hören (Schwerhörige und Gehörlose)14.5180,162
Sprache (Sprachbehinderte)44.8910,502
Körperliche und motorische Entwicklung (Körperbehinderte)26.4830,296
Geistige Entwicklung (Geistigbehinderte)70.4510,788
Emotionale und soziale Entwicklung (Verhaltensgestörte)41.0120,459
Förderschwerpunkt übergreifend bzw. ohne Zuordnung19.2950,216
Kranke9.5920,107
Behinderte insgesamt495.2445,539

      Pragmatisch lässt sich festhalten, dass Kinder, die dem Bildungsgang der Regelschule (Grund- und / oder Hauptschule) nicht zu folgen vermögen, als „behindert“ gelten und deshalb in besonderer Weise gefördert werden müssen. Sie stellen einen Teil der Klientel der sonderpädagogischen Diagnostik dar, deren Umfang gegenwärtig fast eine halbe Million Schüler betrifft (Tab. 1). Jährlich werden schätzungsweise 50.000 Kinder und Jugendliche diagnostiziert und begutachtet. Nimmt man allerdings den Präventionsbereich und die damit verbundene wichtige Aufgabe des Lern- und Leistungsbereiches mit hinzu, dürfte sich die Zahl der zu untersuchenden Kinder wohl eher verdoppeln.

      Zur Erziehung und Unterrichtung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder verfügt die Bundesrepublik über ein differenziertes System unterschiedlicher Förderschulen.