Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. Christoph Winkler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Winkler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846352861
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wie sie bisher noch nicht festgestellt werden konnte. Entwicklung, Schullaufbahn und Leben von ca 25 Prozent der Kinder in der Regelschule erweisen sich nicht als positiv. Diese Kinder gelten als lern-, leistungs- oder verhaltensgestört und damit meist auch als erziehungsschwierig. Es handelt sich dabei um Schüler, die durch das Erleben permanenter Frustrationen und Ängste in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit gefährdet sind. Ein kritisches Hinterfragen der Lehrplaninhalte, pädagogischer und didaktischer Methoden, eigentlich eine Diagnostik der Schule und deren Umfeldbedingungen ist längst überfällig.

      Erst recht im Förderschulbereich (bisher „Sonderschulbereich“) kann man von einer heterogenen Schülerschaft sprechen, die von schwerster geistiger Behinderung und damit Mehrfachbehinderung, von der Sinnesbehinderung bis hin zum überdurchschnittlich intelligenten, aber extrem verhaltensgestörten Kind reicht. Darunter finden sich Schüler mit Wahrnehmungsstörungen unterschiedlicher Art, mit Teilleistungsstörungen, gravierenden Lese- und Schreibproblemen, Dyskalkulie, Erziehungsschwierigkeiten, mit psychischer und physischer Frühdeprivation, mit autistischen Zügen, seelischer Behinderung und Hyperaktivität – allgemein gesehen: Schüler mit kognitiven und emotionalen Strukturierungs- Und Verarbeitungsstörungen sowie Schüler, die unter primär behindernden Bedingungen außerschulischer Art aufgewachsen sind, bei denen eine Kind-Umfeld-Diagnose dringend geboten ist. Dabei muss man erkennen und feststellen, dass es diese Störungen oder Behinderungen in linearer oder einheitlich-homogener, klar abgrenzbarer Form überhaupt nicht gibt. Wir haben es sowohl mit den Phänomenen Heterogenität, Individualität, Mehrfachstörung und -behinderung von Schülern als auch mit behindernd wirkenden Umfeldbedingungen zu tun.

      Daraus erwächst – unter bildungspolitischem Aspekt betrachtet – die Aufgabe, Kindern und Jugendlichen ein von ihrem spezifischen Förderbedarf bestimmtes, also beobachtungs- / diagnosegeleitetes und differenziertes Förder- sowie Lerntherapieangebot sowohl im Regel- als auch im Förderschulwesen ggf. unter Einbezug von Lerntherapie bereitzustellen. Zieldifferentes Lernen wird orientiert an der jeweiligen Entwicklungsstufe des Schülers angestrebt.

      Historisch betrachtet haben diagnostische Fragestellungen im sonder- oder heilpädagogischen Arbeitsfeld eine bewegte, meist vom Zeitgeist geprägte, insofern auch kritikbedürftige Geschichte, die hier allerdings nur in akzentuierter Form aufgezeigt werden kann.

      Im Jahre 1904 setzte das französische Ministerium für Unterricht eine Kommission ein, die einen Unterrichtsplan für anormale und zurückgebliebene Kinder ausarbeiten sollte. Alfred Binet (1857–1911), der anfangs Jurist war, sich später den Naturwissenschaften der Psychologie und medizinischen Fragen zuwandte, befand sich als Berichterstatter in dieser Kommission. Seine Aufgabe war die Klärung der Frage, wie der Intelligenzgrad jener Kinder festgestellt werden könnte, die nicht in der Lage waren, dem üblichen Unterricht zu folgen. Die „Auslese“ der genannten Kinder stand als Problem im Mittelpunkt. Für Binet war dies der Anstoß, zusammen mit dem Arzt Théodore Simon (1873–1961) das bekannte Binet-Simon-Testsystem auszuarbeiten.

      Diese Zeit, die noch zahlreiche Impulse durch die experimentelle Psychologie, Physiologie, Medizin, durch die Naturwissenschaften, v. a. auch durch die Mathematik erfuhr, wird als ein wesentlicher Ausgangspunkt der sonderpädagogisch-psychologischen Diagnostik betrachtet.

      Die 1884 durch das französische Unterrichtsministerium eingesetzte Kommission aus Medizinern, Naturwissenschaftlern, Pädagogen und Psychologen arbeitete ein dreiteiliges Verfahren zur Erfassung von Kindern mit geistiger Retardation aus. Binet und Simon stellten im Jahre 1905 dieses Verfahren zur Feststellung von Kindern mit „geistiger Inferiorität“ vor. Es beinhaltete:

      „1 Ärztliche Untersuchung (,medizinische Methode‘) zur Aufdeckung der anatomisch-physiologischen Ursachen, geistiger Inferiorität‘.

      2 Schulleistungsprüfung (,pädagogische Methode‘) zur Feststellung des Wissensbestandes und der Fertigkeit in den Kulturtechniken.

      3 Intelligenzprüfung (,psychologische Methode‘) zur Feststellung, ob schon von der Anlage her eine geistige Minderbegabung als Ursache für das Schulversagen vorliegt.“ (Kautter / Munz 1974, 291).

      Es ergibt sich die Überlegung, ob und inwieweit die vorhandenen psychologisch-pädagogischen und auch medizinischen Methoden der Gegenwart sich als Entscheidungshilfen zur Förderung von Kindern mit Auffälligkeiten, Störungen und Behinderungen eignen. Auch wenn wir es zunächst mit diagnostischen Problemen zu tun haben, erhält die pädagogisch-heilpädagogische Fragestellung (Bundschuh 2010, 32–37) den Vorrang. Im Zentrum stehen Kinder, allgemein sich lebenslang entwikkelnde Menschen mit mehr oder weniger großen Problemen, Beeinträchtigungen und Behinderungen, ihnen muss geholfen werden.

      In diesem Zusammenhang gelten an sich teilweise immer noch folgende aus den Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates (1973) abgeleitete Prioritäten:

      a) Prophylaxe von Schulversagen und Lernbehinderung,

      b) Schulprobleme beheben sowie Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen – ggf. durch therapeutische Maßnahmen – aufarbeiten und therapieren,

      c) Vermittlung von Kenntnissen, Einstellungen und Fertigkeiten mit der Zielrichtung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.

      So wird die Aufgabe der Erörterung der Problematik „sonderpädagogisch-psychologische Diagnostik“ als „Förderdiagnostik“ vor allem mit der Erkenntnis verbunden sein, dass es um Informationsgewinnung zwecks Hilfe in einer Not- und Problemsituation und damit um Verstehen und Förderung geht. Der heilpädagogische Aspekt steht im Vordergrund.

      Unter Berücksichtigung dieses Aspektes erfolgt in Kapitel 2 ein kurzer Überblick zur Geschichte der Intelligenzdiagnostik unter Berücksichtigung sonderpädagogischer Aspekte.

      Kapitel 3 thematisiert Aufgaben, Funktionen und Bereiche, Ziele und Fragestellungen der aktuellen sonder- und heilpädagogischen Diagnostik.

      Das vierte Kapitel behandelt testtheoretische Voraussetzungen zur Durchführung sonder- und heilpädagogischer Diagnostik. Es gibt eine kritische Einführung in das Verständnis notwendiger testtheoretischer Grundlagen. Dabei werden grundsätzliche Kompetenzen vermittelt, über die professionell diagnostizierende Lehrer an Förderschulen, sonderpädagogischen Förderzentren, in heilpädagogischen Einrichtungen und im Bereich Lerntherapie verfügen müssen.

      Im fünften Kapitel werden wichtige Methoden und relevante Verfahren zur Gewinnung diagnostischer Informationen beschrieben, die zur Beobachtung und Feststellung des Entwicklungsstandes, der Intelligenz, der Schulleistung, des sozialen und affektiv–emotionalen Verhaltens, der Sprache, Motorik, Wahrnehmung und damit der Beantwortung (sonder-) und (heil-) pädagogischer Fragestellungen dienen. Diese Methoden und Verfahren bilden die Grundlage für die Erstellung förderungsorientierter sonderpädagogischer Gutachten und für Lerntherapie. Dieses Kapitel thematisiert auch spezielle Probleme wie diagnostische Fragen bei Autismus, schwerer geistiger Behinderung und im Kontext Kind-Umfeld-Analyse.

      Das sechste Kapitel beschreibt das Vorgehen bei der Erstellung eines pädagogisch-psychologischen, speziell förderungsorientierten Gutachtens mit dem Ziel der Feststellung und Beschreibung des sonder- und heilpädagogischen Förderbedarfs. Ferner enthält es wichtige Aspekte der Förderung.

      Ressourcen und Kompetenzen der Schüler zu erkennen, trägt nicht nur dazu bei, Schüler zu fördern, Unterricht erfolgreich planen und durchführen zu können, sondern auch dazu, Schüler zu bilden und die Persönlichkeit zu entfalten. In diesem Kontext bietet dieses Kapitel auch kompetenzorientierte Fördervorschläge z. B. für die Bereiche Alltagsbewältigung, Kognition, Schule, Unterricht, Emotionalität und Sozialverhalten sowie konzeptionelle Überlegungen zur Förderplanung im Hinblick auf Notwendigkeit, Verständnis, Grundsätze, Aufgaben, Prozesshaftigkeit, Aufbau und Inhalt.

      2 Geschichtlicher Aufriss der Intelligenzdiagnostik unter besonderer Berücksichtigung sonderpädagogischer Aspekte

      Lernziele

      1. Informieren über erste Ansätze sonderpädagogischer