Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. Christoph Winkler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Winkler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846352861
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Ohne gründliche, aber auch praktikable (!) innovatorische Reflexionen über „rein pädagogische“ Möglichkeiten im Rahmen eines Schulsystems sollte weder das Sonder-, jetzt Förderschulwesen aufgelöst noch der Beruf des Sonder- oder Förderschullehrers „abgeschafft“ werden (vgl. die unbefriedigende, in Einzelfällen schlimme Situation in Italien, über die 1982 Prof. Galliani von der Universität Padua berichtete). Die im folgenden Abschnitt zu thematisierende, pädagogisch akzeptablere Förderdiagnostik im Sinne einer Prozess- und Begleitdiagnostik, die speziell auch im Rahmen von Unterricht realisiert werden kann, erweitert nicht nur Perspektiven, sondern auch Möglichkeiten.

      In den vorangegangenen Ausführungen wurde bereits hervorgehoben, dass die Diagnose alleine im Hinblick auf das Kind wenig Relevanz besitzen würde, wenn nicht gleichzeitig gezielte, differenzierte Vorschläge zur Förderung eines in seiner Entwicklung beeinträchtigten Kindes gegeben würden. Das Moment der Förderung enthält eine so eminent wichtige Funktion, dass nicht darauf verzichtet werden kann, diesen Aspekt zu thematisieren und allen weiteren Ausführungen als Prinzip zugrunde zu legen. Es geht im Rahmen der sonderpädagogischen Diagnostik nicht in erster Linie um die Feststellung einer Störung, eines Defizits oder einer Behinderung, vielmehr ganz speziell um die „Herausstellung der für eine sonderpäd. Förderung geeigneten Ansatz- und Ausgleichsmöglichkeiten“ (Kap. 5.8), wobei man sich auch der ärztlichen Befunde bedienen sollte.

      Die förderdiagnostische Untersuchung intendiert insbesondere Ansätze und Vorschläge für gezielte Maßnahmen zum Abbau und zur Kompensation von Beeinträchtigungen, zur Prävention von Störungen, zur Prophylaxe bei vorliegenden Beeinträchtigungen und Anregungen zur Entfaltung einer vorliegenden Spezialbegabung. In diesem Sinne führt die sonderpädagogische Diagnostik, die sich als Förderdiagnostik (Bundschuh 2019) versteht, immer zu einer Bildbarkeits-Diagnose. Der Sonder- und Heilpädagoge forscht gleichsam auch nach einem Begabungsbereich, der einer „Begabungsinsel“ gleichkommt und zur Emanzipation geführt werden soll. Es geht heute nicht mehr in erster Linie um eine „Feststellung“, nicht mehr um ein „Urteil“, nicht mehr um die „Einweisung“ in eine bestimmte „sonderpädagogische Einrichtung“, vielmehr geht es – zunächst allgemein ausgedrückt – um die Transformation förderdiagnostischer Erkenntnisse in die Entwicklung, in Lernprozesse, Unterrichtsprozesse (Curricula), in das Leben eines in seiner Entwicklung gefährdeten und beeinträchtigten Menschen schlechthin.

      Förderungsspezifische Diagnostik soll dazu beitragen, erschwerte Lernprozesse zu erleichtern, massives Schulversagen soll so möglichst gar nicht erst entstehen bzw. gemildert oder überwunden werden:

      – Zeitlich kann eine förderungsspezifische Diagnostik nicht auf die Überprüfungsperiode beschränkt bleiben. Sie muss stets dann angewendet werden, wenn Lernschwierigkeiten auftreten.

      – Gegenstand der förderungsspezifischen Diagnostik sind nicht Merkmale des Kindes, sondern das gesamte Bedingungsgefüge des schulischen Erfolgs und Misserfolgs ist einzubeziehen.

      – Als Methoden sind solche Verfahren vorzuziehen, deren Daten direkt Ansatzpunkte für pädagogische und therapeutische Interventionen liefern und nicht erst über verschiedene Arten von Schlussfolgerungen ein hypothetisches Konstrukt (wie es z.B. die „Intelligenz“ ist) quantifizieren.

      Wir sind der Meinung, dass sich förderungsspezifische Diagnostik auch im Rahmen einer unmittelbaren Verbindung von indirekten und direkten Verfahren realisieren lässt.

      „Indirekte Modelle“ sonderpädagogischer Diagnostik werden von Peter Barkey so beschrieben: Sie beziehen sich „weitgehend auf individuell zentrierte Defizitannahmen oder Feststellungen, die als individuelle Beschreibungsmomente wenig expliziten Bezug auf zu erreichende Lernziele nehmen“ (Barkey 1975, 21).

      „Indirekte Modelle sonderpädagogischer Diagnostik benutzen als Vergleichsgruppe jahrgangsgleiche, nach biographischen und demographischen Kriterien homogenisierte Schülerpopulationen, die durch die Verteilung ihrer Lernleistungen gruppenspezifische Kriterien für bestimmte Auffälligkeiten repräsentieren. Unterschiedliche Lernbedingungen werden als Störvariable berücksichtigt, die sich durch entsprechendes Vorgehen bei der Auswahl der Bezugsgruppe – bei standardisierten Tests: Eichstichprobe – ausgleichen sollen. Indirekte Modelle sonderpädagogischer Diagnostik beziehen sich sehr häufig auf der Medizin entlehnte Analogien …“ (Barkey 1975, 21 f.).

      Unter den indirekten Modellen sonderpädagogischer Diagnostik versteht man vor allem die Verfahren, die sich an die normorientierte Diagnostik anlehnen; d. h., sie werden mit dem Ziel angewendet, einzelne Untersuchungsergebnisse im Hinblick auf statistische Bezugswerte (Normen, Testnormen, Eichwerte) einer bestimmten Bezugsgruppe auszudrücken und zu interpretieren. Hierzu gehören alle Verfahren, die man als psychometrische Verfahren (messende Verfahren) bezeichnet, die den Vergleich einer Einzelleistung mit der Leistung einer größeren Bezugsgruppe zulassen. Dies könnten z. B. Intelligenztests, Schulleistungs-, Schulreifetests, Fähigkeitstests … sein.

      Barkey sieht die „wohl wichtigste Dimension direkter Modelle sonderpädagogischer Diagnostik darin, dass sie bei einer Feststellung mehr oder weniger nicht erreichter Lernziele die Bedingungen für das Nichterreichen dieser Lernziele erkundet, damit neue gezielte Maßnahmen eingeleitet werden können.“ Diese Modelle „benutzen als Bezugsgruppe die Schüler, die in einer bestimmten Zeit und im Rahmen einer bestimmten pädagogischen Unterweisung gleiche Lernangebote für ein explizit genanntes Lernziel erhalten. Direkte Modelle versuchen bei Nichterreichen dieses Ziels Bedingungen für das Nichterreichen aufzudecken und daraus Handlungsanweisungen für zusätzliche pädagogische Hilfen abzuleiten.“ So stellen die direkten Modelle sonderpädagogischer Diagnostik „verstärkt die Möglichkeiten der Modifikation und Variation pädagogischen Handelns im Sinne etwa der Verhaltensmodifikation in den Vordergrund“ (Barkey 1975, 22).

      Beispielhaft charakterisiert wird eine relativ flexible und variable Form der Verhaltensbeobachtung – empfohlen vor allem die „Situationsanalyse“ als eine Form der Beobachtung des Schülerverhaltens in spezifischen Lernsituationen und Lernprozessen.

      Im Zusammenhang mit problematischen Kindern ist anzustreben, „die ohnehin vorhandenen Stigmatisierungen nicht noch durch wissenschaftlich aufgebauschte Nomenklaturen zu untermauern, sondern Kategorien zu finden, die in Bezug auf erzieherisch mögliche Interventionen dem Lehrer Hilfen für sein pädagogisches Handeln bieten“ (Barkey 1975, 27).

      Barkey als Vertreter direkter Modelle meint, bei der Beurteilung schulischer Leistungen seien direkte Modelle der Leistungsprüfung vorzuziehen.

      Direkte Modelle stellen die pädagogische Problemanalyse in den Mittelpunkt, wobei zwischen curricularem, Interaktions- und Modifikationsaspekt unterschieden wird.

      Sonderpädagogische Diagnostik, orientiert an direkten Modellen, geschieht also auf der Grundlage der Analyse und Strukturierung der Lernziele und Kenntnisse des Unterrichtsverlaufsgeschehens. Die gegenwärtig diskutierten und auch versuchsweise erprobten alternativen diagnostischen Konzepte im pädagogisch-sonderpädagogischen Bereich orientierten sich in hohem Maße an dem aufgezeigten Gedanken direkter Modelle, wobei die wesentlichen Schwerpunkte in dem erweiterten diagnostischen Prozess, in den unmittelbar an die Diagnose anschließenden Interventions-, Handlungs- und Evaluationsstrategien liegen.

      Verschiedene Beiträge vergleichen und bewerten herkömmliche Diagnostik mit neueren förderungsorientierten Ansätzen (Barkey 1975; Eggert 1975). Kautter (1975) hält die am Medizinischen Modell orientierte Diagnostik für Selektionsentscheidungen für den „gegenwärtigen Zustand“ und strebt eine an den Förderungsbedürfnissen orientierte Diagnostik an.

      Kobi stellt (1977, 115–123) richtungsweisend in 28 Thesen „Einweisungsdiagnostik“ und „Förderdiagnostik“ gegenüber. Es fällt schwer, die wesentlichen Inhalte dieser sehr systematisch aufgezeigten Thesen hier darzulegen, denn alle implizieren hohe Relevanz. Es soll deshalb der Versuch unternommen werden, die aus der Sicht des Verfassers bedeutsamsten Momente der Förderdiagnostik (FD) vorzustellen:

      – „Die Förder-Diagnostik entwickelte sich in kritischer Distanznahme von der Einweisungs-Diagnostik im Zuge verschiedener