Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. Christoph Winkler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Winkler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846352861
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      (12) aktive Mithilfe – auch durch den Einsatz diagnostischer Mittel – bei der Berufsfindung (Unterstützung des Arbeitsamtes; Kontakte mit Betrieben);

      (13) im Rahmen eines Einbezugs förderdiagnostischer Aufgaben im Bereich erweiterter Aufgabenfelder wie Frühförderung und Regelschule.

      Sonderpädagogik ist heute weitaus mehr als Sonderschulpädagogik, sie findet nicht nur in Förderschulen statt, sondern reicht weit in die Früherziehung und Vorschulerziehung sowie in die Bereiche der Regelschule hinein, gefordert durch Kinder und Eltern in Problemsituationen im Erziehungs- und Lernprozess. Es geht dabei zunächst primär um Prävention, Integration und Inklusion (vgl. Schäfer / Rittmeyer 2015).

      Als übergreifende permanente Aufgabe wird Verhaltensbeobachtung Erziehungs- und Lernprozesse begleiten (Kap. 5.2.1).

      Aus der Diagnose und Analyse der vorliegenden Problematik ergibt sich die Aufgabe, die Möglichkeiten der Erziehung und Bildung des jeweiligen Kindes zu eruieren. Sonderpädagogik muss sich beschäftigen mit der Frage nach dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung eines Kindes mit Behinderung, mit der Frage nach der optimalen Förderung, der Ermutigung, evtl. mit dem Problem, dass das Kind lernt, mit seiner Behinderung zu leben, mit dem Ausgleich einer Beeinträchtigung etwa auch auf anderem Gebiet, also mit der Frage der Kompensation (Alfred Adler).

      Auch die Selbstregulierungstendenzen und die Selbstentfaltungskräfte im kindlichen Organismus sind zu beachten, d. h., ein Kind ist wandelbar im Laufe des Wachstums, es „entwickelt sich“ (Konstruktivismus) und wird nicht nur geprägt (Bundschuh 2008, 97 ff.). Im Zusammenhang mit der Diagnose gibt der Sonder- und Heilpädagoge Hilfestellung, beseitigt hemmende Einflüsse, behindernde Bedingungen und erstellt einen Förderplan (vgl. Kap. 6.6.3) und trägt damit zur Entfaltung der im Kind vorhandenen Möglichkeiten bei. Überforderungssituationen in der Grundschule werden im Zusammenhang mit helfenden und unterstützenden Maßnahmen abgebaut, Erfolgserlebnisse vermittelt, soziale Diskrimination durch den Anschluss an die Klassengemeinschaft (Integration, Inklusion) beseitigt. In unmittelbarem Zusammenhang mit den konkreten Aufgaben des diagnostizierenden Lehrers für Sonderpädagogik stehen noch einige wichtige Aspekte, wie z. B. die grundsätzliche Frage nach der Sicherheit bzw. Unsicherheit einer Diagnose, die Frage der Ätiologie und der einzuleitenden Förder- und Therapiemaßnahmen, ferner die Bedeutung einer Aufnahme in eine Förderschule für das Kind und die Familie. Die hier angeführten Aspekte sollen zumindest punktuell im Folgenden angesprochen werden.

      Man kann sagen, dass eine Diagnose, die zugleich Fördermaßnahmen intendiert und impliziert, umso schwieriger wird, je stärker ein Mensch beeinträchtigt ist, etwa bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung oder mit schweren Verhaltensstörungen. Häufig wird die eigentliche Primärbehinderung (Grundbehinderung) von sekundären oder tertiären Behinderungen oder Störungen überlagert, die sich in der Folgezeit aufgebaut haben, wie das bei der Taubheit, Blindheit, bei körperlichen Beeinträchtigungen schlechthin der Fall ist oder im psychischen Bereich bei sozialen Störungen bis hin zur Neurose. Es kann vorkommen, dass sich im Verlauf einer psychologisch-sonderpädagogischen Untersuchung bei problematischen Kindern Widersprüche zeigen zwischen der intellektuellen Leistung, die im Intelligenztest erreicht wird, und der schulischen Leistung, zwischen den Aussagen des bisherigen Lehrers und den Ergebnissen der sonderpädagogischen Untersuchung (schlechte Leistungen in der Schule – relativ gute bei der Untersuchung). In einem solchen Fall müsste die Möglichkeit zu einer längeren Beobachtung eines Probanden, zu wiederholtem Testen mit verschiedenen Verfahren gegeben sein, vor allem auch mit möglichst „kulturfreien“ Verfahren, also mit Tests, deren Ergebnisse kaum von Lernprozessen, von Anregungen durch die Umwelt beeinflusst werden, um zu einer weitgehend gesicherten Information und Aussage über eine Förderung zu kommen.

      Ungereimtheiten und Widersprüche im Verlauf einer Untersuchung sollten stets zu denken geben und nach Möglichkeit aufgeklärt werden.

      Zum Aufgabenfeld des diagnostisch tätigen Lehrers für Sonderpädagogik gehören auch Fragen nach dem Zeitpunkt der Entstehung und damit eng verknüpft auch die Frage nach der Ätiologie (Ursache) einer Beeinträchtigung. Wichtig wäre es also zu klären, wann eine Störung oder Schädigung eingetreten ist:

      1. pränatal (vorgeburtlich), etwa durch Röteln, infektiöse Hepatitis (Gelbsucht), toxische (giftige) Einflüsse, Sauerstoffmangelzustände, evtl. bereits durch Milieueinflüsse (mangelnde Hygiene, keine Vorsorgeuntersuchung …)

      2. perinatal (während der Geburt), evtl. durch eine besondere Lage des Kindes im Mutterleib, Atemstillstand, Asphyxie (Sauerstoffmangel), besondere Umstände bei der Geburt …

      3. oder postnatal (nach der Geburt), möglicherweise durch frühkindliche Gehirnschädigung, Unfälle leichter bis schwerer Art, Infektionskrankheiten, besondere Krankheiten oder vielleicht durch ungünstige Milieueinflüsse (soziokulturelle Benachteiligung, wenig Lernreize, schlechte Ernährung , Armut …).

      Gerade im Zusammenhang mit einer Milieuschädigung spielt die Intensität und die Dauer eine wesentliche Rolle für den Schweregrad einer Störung oder gar Behinderung. Zu denken wäre z. B. an fortgesetzte Kindesmisshandlung, an ständige Ehekonflikte, die vor dem Kind ausgetragen werden, in die vielleicht das Kind einbezogen wird, an gravierende Fehleinstellungen der Eltern zum Kind …

      Zeitpunkt und Ätiologie einer Beeinträchtigung können sicherlich nicht immer ganz exakt eruiert werden, dennoch darf das Bemühen um Klärung der genannten Aspekte nicht als zweitrangig betrachtet werden, da die Fördermaßnahmen in einem unmittelbaren Bezug zum Ursachenbereich stehen.

      Die Bedeutung einer Aufnahme in eine Förderschule sollte für das Kind – und auch für die Eltern – nicht als gering angesehen werden. Die zunächst allgemeine Diagnose und das „ Urteil – förderschulbedürftig“ bringen eine Zuordnung zu einer Minderheit mit sich mit allen Konsequenzen für das spätere Leben. Man muss aber auch bedenken, dass ein Verbleiben an der Regelschule für die Lernbereitschaft und für die gesamte Entwicklung der Persönlichkeit negative Folgen mit sich bringt, wenn das Kind ständig überfordert wird, immer wieder sein Nicht-Leistenkönnen erfährt und schließlich Schulangst entwickelt. Immer wieder wird die Problematik der Entscheidung „Förderschulbedürftigkeit“ im Zusammenhang mit Schülern im Förderbedarf Lernen zur Diskussion gestellt. Das niedrige Sozialprestige gerade bei der zahlenmäßig größten Gruppe, nämlich bei den Schülern mit Förderbedarf Lernen, zeigt sich nicht nur darin, dass vermeintliche Dummheit in unserer Gesellschaft leider immer noch Spott und Schande hervorruft, sondern auch deutliche Beeinträchtigungen der Entwicklungsmöglichkeiten vor allem nach Beendigung der Schulzeit zur Folge hat, die von der Gesellschaft gesetzt werden.

      So bleiben Schülern mit Förderbedarf Lernen bestimmte Berufe verschlossen, denen sie begabungsmäßig durchaus gewachsen wären, wie z. B. die Beamtenlaufbahn des einfachen Dienstes bei der Post oder eine ganze Reihe von Lehrberufen.

      Greift man wiederum die Gruppe der Schüler mit Lernbehinderung – jetzt Förderbedarf / -schwerpunkt Lernen – heraus, so muss man bemerken, dass bei keinem anderen Förderschultyp so viele Probleme auftreten, es vielleicht wegen der mangelnden Offensichtlichkeit der Beeinträchtigung dieser Kinder so viele Widersprüche und Anfechtungsklagen gegen Ein- und Umschulungsentscheidungen gab, wie bei Sonderpädagogischen Förderzentren (früher „Hilfsschule“, Schule zur individuellen Lernförderung genannt), weil die „Behinderung“ zu wenig offensichtlich, zu wenig prägnant und auffällig ist, weil sie eben häufig erst dann zutage tritt, wenn schulische Anforderungen an die Kinder gestellt werden. Deshalb sehen auch die Eltern manchmal die Notwendigkeit der Maßnahmen in Form einer „besonderen“ Beschulung ihrer Kinder nicht ein.

      Sie wehren sich im Zusammenhang mit dem vielerorts diffamierenden Charakter dieses Schultyps gegen eine Aufnahme ihrer Kinder in eine Schule mit dem Schwerpunkt Förderbedarf Lernen. Der Begriff Lernbehinderung wurde traditionell betrachtet auch als „euphemistisch“, „relational“, „diffamierend“, „fixierend“, „simplifizierend“ und als „pauschalierend“ gesehen.

      Gerade diese Aufgaben des diagnostizierenden Sonder- und Heilpädagogen im institutionellen Bereich haben viel zur Kritik an seiner diagnostischen Tätigkeit beigetragen. Die Frage bleibt offen, wer