Den Gott Israels als den einzigen Gott zu bekennen, die Torah als ewig geltende Offenbarung zu bewahren und sie zu praktizieren, und sich von allem abzugrenzen, was mit Fremdkult bzw. Götzendienst zu tun hat, sind die Hauptanliegen dieses Gesetzes (s. Reader, Nr. 10). Die jüdische Tradition sieht aber in der Sinaiszene keinen Glaubensinhalt, sondern ein durch alle damals anwesenden Israeliten (600.000) bezeugtes historisches Faktum.
Der Levi-Nachkomme Mose tritt in einer dreifachen Funktion in Erscheinung: (1.) als Torah-Offenbarer/Gesetzgeber, und in dieser Rolle wird ihm unmittelbare göttliche Offenbarung zuteil, während normale Propheten nur vermittelte Offenbarungen empfangen; (2.) Als Kultgründer (Priester), und (3.) als militärisch-politischer Anführer Israels. Noch zu Lebzeiten verteilt Mose diese Aufgaben für die Zukunft auf mehrere Instanzen. Sein Bruder Aaron wird zum Priester geweiht und seine Nachkommen erhalten mit der Kultgründung die priesterliche Funktion als erbliche Aufgabe zugeteilt; die anderen Levi-Nachkommen dienen als Leviten in kultischen und staatlichen administrativen Funktionen. Wie schon anhand der Figuren des Melchizedek (Gen 14,18–20) und des Jakobsohnes Levi vorgezeichnet, ist diese Kultdienerschaft als Institution urzeitlich und himmlisch verankert. Sie überdauert daher Heiligtumszerstörungen und steht auch heute noch für einen dritten Tempel und eine Wiederaufnahme des Kultbetriebes bereit.49
Josua übernimmt die politisch-militärische Führungsrolle, und auch die Torah-Offenbarerfunktion wird zunächst für diese – sozusagen staatliche – Seite in Konkurrenz zur priesterlichen beansprucht. Im Mittelalter wurden die drei Funktionen als die des Propheten, Philosophen und Staatsmannes definiert. Hinter diesen Funktionen tritt Mose als Person eher zurück.50
Mit Ex 32 wird zwischen der Herabkunft des Mose vom Berg und der Übermittlung der (ersten) Dekalogtafeln und der Torah an Israel die Episode vom goldenen Kalb eingeschoben, die auslegungsgeschichtlich und theologisch eine enorme Nachwirkung hatte, auch in der christlich-jüdischen Auseinandersetzung.51 Dieses Versagen des ungeduldigen Volkes und sogar Aarons wurde als Ursache für nicht angemessenes Funktionieren der religiös-kultischen Institutionen verstanden und auch andere negative Konsequenzen wurden damit begründet. Nur die Autorität des Mose und das Eingreifen seiner levitischen Gefolgsleute haben eine Katastrophe am Sinai verhindert.
Israels Verhalten am Sinai wurde in der Tradition als ambivalent empfunden und beschrieben. Einerseits wird die vorauseilende Bereitwilligkeit der Israeliten zur Torahpraxis hervorgehoben, wie sie die Wortfolge hören und tun in Dt 5,27 andeutet, im Gegensatz zu den Völkern, denen die Torah auch angeboten worden war. Nach anderen Aussagen hat Gott am Sinai sein Eigentumsvolk zur Annahme der Torah gezwungen. Torahgehorsam wird einerseits als Aufsichnehmen des Joches der Gottesherrschaft bezeichnet, andererseits als Auftrag verstanden, dem man sich nicht entziehen kann, in jedem Fall auch als Mittel der Befreiung von den Folgen des Sündenfalls und als Schutz vor den Fährnissen dieser Welt. Auch das Verhältnis zwischen Israel und seinem Gott konnte daher je nach Kontext als eines zwischen Herrn und Knechten oder zwischen Vater und Söhnen beschrieben werden.52
5.2.1 Kultstätte und erwählter Kultort
Am Sinai wird zwar der Kult Israels initiiert, aber örtlich ist dieser an Jerusalem und sein Heiligtum gebunden. Wie jeder Altarbau der Patriarchen gilt auch die Zelt-Wohnstatt Gottes (Ex 25 ff laut Ex 35 ff) nur als vorläufiges Heiligtum. Der eigentliche und im Land Israel einzig zulässige Kultort ist Jerusalem, der »Ort, den der HERR sich erwählt«; alle anderen Kultstätten, auch solche in Militärlagern, sind vorläufige Kultorte oder von untergeordneter Bedeutung.
5.2.2 Heiligkeit, rituelle Reinheit und Unreinheit
Mit dem kultischen Denken eng verbunden sind Vorstellungen von Heiligkeit und ritueller Reinheit (s. Teil IV, 2).53 Gott ist heilig schlechthin, was ihm zugehört, muss heilig sein, sei es eine Sache oder eine Person. Gott verheißt Israel, in seiner Mitte einzuwohnen, und zwar im Heiligtum, seine Gegenwart ist vorrangig eine kultische.
Im Brennpunkt des Kultes steht das Allerheiligste im Tempel mit der kultischen Gegenwart Gottes, seinem kabôd (später: šekînah). Von da aus erstrecken sich konzentrisch abgestufte Heiligkeitsbereiche, über den Priesterbereich und Altarbereich im Tempel, die Tempelhöfe, die Stadt des Heiligtums (Jerusalem/Zion), die umwallten Städte im Land, bis an die Grenzen des Landes (s. Reader, Nr. 9). Der Status der Heiligkeit bzw. rituellen Reinheit ist somit abgestuft, es gibt im Zentrum Allerheiligstes bzw. Hochheiliges. Und Dinge und Personen, die damit in Berührung kommen, müssen ebenfalls den entsprechenden Heiligkeitsgrad aufweisen, d. h.: den entsprechenden Grad ritueller Reinheit. Trifft das zu, ist die Sache bzw. die Person für das entsprechend Heilige kašer (tauglich) bzw. geeignet oder zulässig; andernfalls ist es unrein und verunreinigt das Heilige, bzw. macht es untauglich. Zu wissen, was verboten und was erlaubt ist, gehört darum zu den Grundvoraussetzungen der Religionspraxis. Hochgradige Unreinheit ist gewissermaßen ansteckend, es verunreinigt nicht nur beim Erstkontakt, sondern darüber hinaus. Die höchsten Unreinheitsgrade verursachen Götzendienst, Leichname und Aussatz, derartige Verunreinigungen bedürfen daher einer siebentägigen Reinigungsprozedur, geringere erfordern zur Reinigung nur drei Tage, leichte nur einen Tag, mit dem Sonnenuntergang als Abschluss, wobei Waschen der Kleider und ein Vollbad die wichtigsten Voraussetzungen bilden. Zur Zeit des Tempels gehörte zum Abschluss des Rituals eine Opferdarbingung.54
Heilig sind auch kultisch relevante Zeiten; der Sabbat und die Feiertage sind heilig und erfordern entsprechendes Verhalten, z. B. Arbeitsruhe. Folgerichtig besteht ein Grundanliegen der jüdischen Religion in der Abgrenzung von allem, was rituell unrein ist, vor allem vom Götzendienst und von den Götzendienern, aber auch von Israeliten, die ihre Bundesverpflichtungen bewusst verletzen (s. Reader, Nr. 10.2).
5.2.3 Kultfähigkeit und Kultgemeinschaft
Die kultische Institution hatte auch weitreichende Auswirkungen auf das Bild und die Rollenverteilung von Mann und Frau. Die Kultdienerschaft (Priester und Leviten) stellt eine Kaste dar, in der nur (diensttaugliche) Männer zum Kultdienst zugelassen sind und in der die Berufsbestimmung nach der männlichen Abstammung vererbt wird. Die Frau gilt wegen der periodischen und gebärbedingten Blutungen als zeitweilig unrein (niddah), durfte im Heiligtum nur den äußeren Hof (Frauenvorhof) betreten und hat sich auch im Alltag möglichst abseits zu halten. Erst Reformjudentum und z.T. auch konservatives Judentum haben diese kultisch bedingten Einschränkungen relativiert.
Da die Torah als Schöpfungsordnung gilt, entspricht eine torahgemäße Lebensweise dem Schöpferwillen und der Naturordnung. Aber allein Israel ist zum Torahgehorsam, zum Gottes-Dienst, erwählt, aus allen Völkern, und damit es so bleibt, muss es sich mittels dieser Reinheitsgesetze auch von den Völkern absondern (s. Reader, Nr. 10). Und wenn innerhalb Israels Differenzen aufbrachen, dienten kultisch-rituelle Abgrenzungsvorschriften