9. Das babylonische Exil und die Heimkehr
Nebukadnezar veranlasste die Deportation der Oberschicht und der städtischen Eliten nach Mesopotamien. Man sprach rückblickend von einer Exilierung aller Judäer, ja des Volkes Israel überhaupt, und maß dem Ereignis paradigmatische heilsgeschichtliche Bedeutung zu. Auf Grund der herrschenden Geschichtsauffassung sollte auf diese bislang größte Katastrophe eine Heilswende folgen. Gerade seit damals verkündete man darum den Gott Israels auch als den einzigen Gott und Schöpfer schlechthin.
Eine Jobelperiode (49 Jahre) dauerte es, bis der Perserkönig Kyros (538 v.Chr.) die Heimkehr der Exilierten und den Wiederaufbau des Tempels zu Jerusalem gestattete, und 70 Jahre zählte man von der Tempelzerstörung bis zur Weihe des Zweiten Tempels (517/6 v.Chr.), symbolträchtige Zahlen, die zu spekulativen Berechnungen anregten, insbesondere zur Rechnung mit Geschichtsperioden zu 490 Jahren. Das Ende des Exils wurde als Heimkehr des ganzen Volkes dargestellt, als eine Art zweiter Exodus, und als Beginn einer neuen Ära, vor allem aber als Triumph der Macht des Gottes Israels (Jes 40 ff).
10. Die Zeit des Zweiten Tempels
10.1 Babylonier, Perser und Griechen
Die Restauration des Tempelkults unter der toleranten persischen Herrschaft hatte eine derart massive Privilegierung des Kultpersonals und eine dementsprechende Ausweitung des Kultbetriebs zur Folge, dass diese neue Situation auch in die Vergangenheit zurückprojiziert und auf diese Weise gerechtfertigt wurde. Sie erschien nun teils im Rahmen der Kultstiftung am Sinai, teils als Verfügung des Königs Davids auf Basis der Torah. Ansonsten hatten Daten der persischen Periode außer dem Kyros-Edikt von 538 v.Chr. und der Tempelweihe von 517/16 wenig heilsgeschichtstheologische Nachwirkungen. Im Nachhinein, nach negativen Erfahrungen unter hellenistischer Herrschaft, wurde aber auch das persische Weltreich mit einem großen Makel behaftet. Die Esther-Erzählung setzt eine Bedrohung der Existenz Israels in Persien voraus, verursacht durch den bösen Haman, einen Agag-Nachkommen, also einen Amalekiter. Und die Rettung erfolgt durch Mordekaj und die jüdische Königin Esther, gefolgt von der Vernichtung der Feinde. Man gedenkt dieser sagenhaften ersten großen Judenverfolgung und Rettung am Purimfest. Ansonsten wird in der jüdischen Überlieferung das Perserreich durchaus positiv bewertet, die Perser gelten wie die Griechen als Nachkommen des Noah-Sohnes Jafet.
Die jüdische Tradition schreibt eine Reihe von Reformen und Verordnungen einer »Großen Versammlung« (Ha-kenäsät ha-gedôlah) zur Zeit des Esra und Nehemia zu und sieht darin die Basis für das Judentum im rabbinischen Sinne. Esra wurde dabei gar zu einem zweiten Mose stilisiert.
Der Name des Jafet-Sohnes Jawan bezeichnet auch die hellenistische Herrschaft nach Alexander dem Großen. Alexander hatte nach 333 v.Chr. mit dem Vorderen Orient auch Juda/Judäa seinem Reich einverleibt und dabei die Privilegien des Tempelstaates unangetastet gelassen. Sein Ruf als Weltherrscher blieb daher unter Juden ein durchwegs positiver, der Name Alexander wurde gern verwendet und Fassungen des in Antike und Mittelalter weit verbreiteten Alexanderromans wurden im Mittelalter hebraisiert und judaisiert.73
Unter der Herrschaft der Ptolemäer in Ägypten und der Seleukiden in Kleinasien/Syrien wurde die Verfügung über das Land Israel Anlass zu fünf Kriegen und die negativen Erfahrungen aus dieser Zeit haben das Bild von Jawan sehr getrübt. Als düsterstes Kapitel zeichnet die Tradition die Herrschaft des Seleukidenkönigs Antiochus IV. Epiphanes.74 Dieser hat demnach in Jerusalem/Judäa eine hellenisierende Richtung unterstützt, deren Ziel die Abschaffung der Torah und der spezifisch jüdischen Lebensweise war. Der König soll zur Durchsetzung dieser Ziele eine Religionsverfolgung und Zwangshellenisierung verfügt haben, Ansatz zu einer nachhaltigen martyrologischen Tradition.75 Dem Aufstand der Makkabäer/Hasmonäer und der Glaubenstreue der Verfolgten wird es zugute gehalten, dass die Religion Israels auf Basis der Torah gerettet und gestärkt aus den kriegerischen und religiösen Auseinandersetzungen hervorgehen konnte.76 Dieses Bild, von der hasmonäischen Geschichtsschreibung dramatisch entworfen und propagiert, hat infolge seiner Übernahme durch Flavius Josephus auch die christliche Sicht der Ereignisse bis heute bestimmt.
10.3 Die vier letzten Weltreiche
In hellenistischer Zeit kam im Orient ein Motiv auf, das zu einem historiographischen Schema von weit reichender Wirkung geworden ist. Man behauptete, dass der Geschichtslauf mit einer Reihe von 3–4 Weltreichen abschließt. Im Buch Daniel zählte man entsprechend der damaligen weltpolitischen Lage vier solche Weltreiche, mit »Jawan« als letztem (s. Reader, Nr. 14), später setzte man Rom an diese Stelle.
10.4 Edom/Esau: Rom als viertes Weltreich Daniels
Rom wurde nach der Einverleibung Judäas ins Römische Reich als eine immer bedrohlichere Macht empfunden, obwohl unter Caesar für die Juden Privilegien festgeschrieben wurden, die eine freie Religionsausübung gewährleisteten. Der zwiespältige Eindruck verfestigte sich unter der Herrschaft des durch Rom eingesetzten Königs Herodes, der aus einer idumäischen Familie stammte. Als Ahnvater Edoms galt von alters her Esau, der Zwillingsbruder Jakobs. Als geläufiges Bild für diesen gefährlichen Nachbarn im Süden diente das »Wildschwein« aus Ps 80,14. Im 1.Jh. n.Chr. war Edom zur Bezeichnung des Römischen Reiches geworden, und nach der Tempelzerstörung im Jahr 70 n.Chr. kam dazu die Parallelisierung mit Babel, der Weltmacht, die den ersten Tempel zerstört hatte, und beide Heiligtümer sollen sogar am selben Jahrestag zerstört worden sein, am 9. Ab, der folglich als jährlicher Fast- und Bußtag begangen wird. Die martyrologischen Traditionen aus der Makkabäerzeit wurden auf dir römische Herrschaft übertragen und verdichtet, der Gegensatz zwischen Israel und den Weltvölkern erhielt dadurch noch schärfere Konturen und es entstand eine bis in die Gegenwart wirksame literarische Konvention drastischer Verfolgungs- und Bedrohungsszenerien in Darstellungen der jüdischen Geschichte.
Die Edom- und Babel-Symbolik wurde auch in das Vierreiche-Schema eingetragen (s. Reader, Nr. 14) und Edom/Esau, das Wildschwein aus dem Wald von Ps 80,14, galt von nun an als letzte Weltmacht, deren Fall man erhofft, damit der Übergang zur messianischen Herrschaft erfolgen kann. Bis dahin muss sich der kleinere Jakob, der das Erstgeburtsrecht erworben hat und dem daher der Vorrang eigentlich zusteht, mit dem großen, gewalttätigen Zwillingsbruder Esau arrangieren. Wann nach dem göttlichen Heilsplan diese Frist zu Ende geht, war allerdings schwer zu kalkulieren. Im Falle kriegerischer Bedrohungen hoffte man auf den Fall Roms und wagte sogar den militärischen Aufstand. Seit den verlustreichen und vergeblichen Revolten von 66–70 n.Chr. und 135–138 n.Chr. galt Rom als die gottfeindliche, frevelhafte Herrschaft schlechthin.77