11. Die messianische Herrschaft
Die endgeschichtliche Verwirklichung der Gottesherrschaft besteht in der Durchsetzung der Torah, insbesondere im Land Israel (s. Reader, Nr. 12.2). Und dies ohne Behinderung durch Weltvölker, die auf ihre angestammte Religion verzichten, den Gott Israels als einzigen Gott und die Torah grundsätzlich als oberste Autorität anerkennen, und die sieben noachidischen Gebote einhalten müssen. Diese theokratische Friedensordnung muss gegebenenfalls mit Gewalt durchgesetzt werden, und das ist die Aufgabe des Gesalbten (des HERRn) aus dem Haus Davids. Nur in diesem politisch-militärischen Sinn kommt dem Gesalbten (Messias) eine Erlöserfunktion zu. Erst in der Neuzeit kam über spätkabbalistische und häretische Tendenzen (Sabbatianismus) eine Erlöserfunktion hinzu, die das Seelenschicksal betrifft und gewisse Entsprechungen zu Christologie aufweist. Unterwerfen sich die Völker freiwillig, erübrigt sich ein endzeitlicher König Israels, denn die Verfassung Israels ist ja die Torah, und tatsächlich taucht die Messiasfigur nicht in allen Darstellungen der Endzeitereignisse auf. Der ideale Davidssohn repräsentiert als Herrscher ja nur auf vorbildliche Weise den Torahgehorsam und damit die theokratische Ordnung. Für das seit der Tempelzerstörung rabbinisch geprägte Judentum galt die eigene Verfassungsvorstellung als Inhalt der Torah, und darum wurden die Institutionen des rabbinischen Establishments, vor allem das Große Sanhedrin, auch bis in die Zeit der Sinaioffenbarung zurückprojiziert. Da aber die Torah bei genauerem Hinsehen keine eindeutige Verfassungsdefinition enthält, blieb die konkrete Gestalt der messianischen Herrschaft durchwegs vage und variabel definiert. Sie konnte auch nicht zum maßgeblichen Glaubensgegenstand werden, weil die entscheidende Glaubensfrage nie im WIE, sondern immer im WANN bestand. Wird durch die Behauptung, die Zeit sei gekommen, also durch das Einsetzen einer messianischen Bewegung, die Terminfrage aktuell, steht jeder vor der Entscheidung, ob er diese Einschätzung der Gegenwart teilt oder ablehnt. Das Zusammenspiel zwischen konkreter Politik und utopischen Gesichtspunkten verlieh den messianischen Bewegungen eine eigentümliche Dynamik, denn man kämpfte im Bewusstsein, dass es um die letzte Chance Israels in der Geschichte geht. Die Folge war ein Trend zu Intoleranz, sowohl gegenüber abweichenden Einschätzungen der geschichtlichen Lage, als auch in der Frage der »richtigen« Torahpraxis.
Die messianische Zeit wird in antiken Quellen teils als ideale, aber doch geschichtlich-irdische Endperiode beschrieben, teils auf üppige Weise ins Übernatürliche verklärt, weil eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen Diesseits und Transzendenz noch nicht üblich war. Die Übergangsphase wird oft als harte Krisen- und Verfolgungsperiode dargestellt, als Zeit der »Wehen des Gesalbten«. Anfangserfolge bestärkten solche Annahmen, aber die Realität wird alsbald an der Utopie gemessen, und entspricht sie der Utopie nicht, spricht man von einer pseudo-messianische Bewegung. Die systemgerechte Konsequenz lautet dann: die Generation war noch nicht würdig, es bedarf einer intensiveren Torahfrömmigkeit, um zum Ziel der Heilsgeschichte zu gelangen. Damit alle Israeliten diese Möglichkeit vollkommener Torahpraxis wahrnehmen und Versäumtes nachholen können, wird die Auferstehung der Toten (Israels) für den Beginn dieser Heilsperiode erwartet. Die Möglichkeit ungehinderter Torahverwirklichung für ganz Israel ist somit der eigentliche Zweck der messianischen Herrschaft, alle anderen Begleiterscheinungen sind demgegenüber zweitrangig (s. Reader, Nr. 12i).
12. Die Kommende Welt – der transzendente Heilszustand
In der Antike und zum Teil auch noch später wurde zwischen der endgeschichtlichen Heilszeit und dem endgültigen Heilszustand nicht oder nicht eindeutig unterschieden. Im Mittelalter wurde die übliche Rede von »messianischer Zeit« und »Kommender Welt« dazu benutzt, um einen vorbereitenden, endgeschichtlich -irdischen, und einen endgültigen transzendenten Heilszustand systematisch zu unterscheiden. Gebildete waren sich darin einig, dass man über die Kommende Welt genau so wenig auszusagen vermag, wie über die jenseitige Gottheit. Neuplatonisch Orientierte, weitaus die Mehrheit, glaubten zudem an eine präexistente, unsterbliche Seele, die nach ihrer Zeit in einem irdischen Leib wieder an ihren überirdischen Ursprung zurückkehrt, sofern sie sich als würdig erweist und nicht erst (durch Seelenwanderung bzw. Wiederinkorporierung) geläutert werden muss. Aristotelisch Orientierte sahen im erworbenen Intellekt ihre Unsterblichkeit verbürgt. Beide hielten die Torahpraxis für das beste Mittel zur Erreichung der göttlichen Zweckbestimmung des Menschen. Der Volksglaube malte freilich die messianische Zeit weiterhin in übernatürlichen Farben aus, versah die Kommende Welt phantasievoll mit übertriebenen irdischen Zügen und schwelgte in Beschreibungen eines Paradieses, in dem die Frommen nach dem Tod oder nach dem Endgericht Aufnahme finden.
1 So auch wieder STERN, S., Time and Process in Ancient Judaism, Oxford/Portland, OR 2003.
2 PATAI, R., Ethnohistory and Inner History: The Jewish Case, JQR 67 1976/7, 1–15; KOCHAN, L., The Jew and his History, 1977; YERUSHALMI, Y. H., Zakhor: Jewish History and Jewish Memory, Seattle/London 1982.
3 OHANA, D./WISTRICH, R. S. (Hg.), Mîtûs we-zikkarôn, Tel Aviv 1996/7.
4 KEEL, O./SCHROER, S., Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Fribourg/Göttingen 2002; VAN KOOTEN, G.H. (Hg.), The Creation of Heaven and Earth: Re-interpretations of Genesis I in the Context of Judaism, Ancient Philosophy, Christianity, and Modern Physics, Themes in Biblical Narrative 8, Leiden 2005; NEUSNER, J., Judaism’s Story of Creation, Leiden 2000; GATTI, R., bere’shit. Interpretazioni filosofiche della creazione nel Medioevo latino ed ebraico, Genf 2005.
5 LAU, D., Wie sprach Gott: »Es werde Licht«? Antike Vorstellungen von der Gottessprache, Lateres 1, Frankfurt a. M. 2003.
6 SAMUELSON, N.M., Judaism and the Doctrine of Creation, Cambridge 1994. Erst seit der späten Antike wurde ebenso wie im Christentum die Schöpfung aus dem Nichts postuliert; vgl. MAY, G., Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, AKG 48, Berlin 1978. Der hebr. Ausdruck lautet (Schöpfung) ješ me-′ ajin (Bestehendes aus Nichts). Neuplatonisch und kabbalistisch orientierte Denker des Mittelalters verstanden dies als Emanation aus dem Nichts als transzendenter Gottheit.
7 COUDERT, A. P. (Hg.), Die Sprache Adams, Wolfenbütteler Forschungen 84, Wolfenbüttel 1999.
8 HARALICK, R.M., The Inner Meaning of the Hebrew Letters, Northvale, NJ 1995; ISAACS, R.H., The Jewish Book of Numbers, Northvale, NJ 1996.
9 ENDRES, F. C./SCHIMMEL, A., Das Mysterium der Zahl, Köln 1984; GLAZERSON, M., The Geometry of the Hebrew Alphabet, Jerusalem 2004.
10 GRÖZINGER, K.E. (Hg.), Sprache und Identität im Judentum, Wiesbaden 1998.
11 GOTTLIEB, F., The Lamp of God. A Jewish Book of Light, Northvale, NJ 1989.
12 GLAZERSON, M., Torah, Light and