Die Spannung zwischen schöpfungs- und erwählungstheologischer Sicht wird auch an der Wertung des individuellen menschlichen Lebens deutlich. Das Problem begegnet in einer unterschiedlichen Textüberlieferung des berühmten Satzes: »Wer ein Menschenleben (aus Israel) rettet/vernichtet, der rettet/vernichtet eine ganze Welt«. Die Passage ist mehrfach überliefert, teils mit, teils ohne »aus Israel«, und wird dementsprechend gegensätzlich verwendet (s. Reader, Nr. 4d). Das Verbot des Blutvergießens ist als noachidisches Gesetz allgemeinverbindlich, aber das betrifft ebenso wie das Dekalogverbot des Tötens nur die ungesetzliche Tötung, schließt also die Exekution von Todesstrafen und das Töten im Krieg nicht aus. Wer einem Israeliten an Leib und Leben Schaden zufügt, begeht allerdings ein gewichtigeres Verbrechen, und im jüdischen Recht wird darum auch häufig in diesem Sinne differenziert. In Bezug auf einen Israeliten gilt daher das spezielle Gebot der Lebensbewahrung (piqqûa
näfäš) und das Verbot der Unterlassung von Hilfeleistung bzw. der Verletzung der Beistandspflicht (Lev 19,16). Die Lebensbewahrung hat sogar Vorrang vor Gebotserfüllungen, Lebensgefahr verdrängt z. B. das Gebot der Arbeitsruhe am Sabbat. Der Lebensbewahrung dient auch das Konzept der Notwehr (nach Ex 22,1), und von daher wurde auch die Berechtigung einer präventiven Verteidigung zum Schutz des Volkes und des Landes Israel abgeleitet.2.2 Der ethnogeographische Raum der Heilsgeschichte
Die Söhne Noahs, Sem, Ham und Jafet, gelten als Stammväter der Menschheit, doch mit einer geschichtlich folgenreichen, qualitativ abgestuften Wertung. Sem ist der Erbe der positiven alten Traditionen. Jafet steht ihm näher als Ham, dessen Nachkommenschaft über seinen Sohn Kanaan in Gen 9,26 f mit dem Stigma der Versklavung behaftet wird und das bis in die Moderne auch bleibt.32 Die drei Noahsöhne verteilen die Welt unter sich auf, die sog. »Völkertafel« in Gen 10 teilt die Menschheit entsprechend ein und verteilt sie geographisch auf, und die Geschichte vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1–9) begründet auch noch die Entstehung der sprachlichen Vielfalt.
Die Zuweisung der Siedlungsgebiete für Semiten, Jafetiten und Hamiten, wie sie in Gen 10 vorliegt, entspricht einer ethno-geographischen Situation im 8./7. Jh. v.Chr. Im Lauf der Zeit wurde diese »Völkertafel« wiederholt neuen Verhältnissen angepasst, um das Verhältnis des eigenen Volkes zur Völkerwelt und damit auch den eigenen Lebensraum zu bestimmen.33 Das geschah immer von einem Blickwinkel aus, der das Heiligtum in Jerusalem als Zentrum der Welt voraussetzt, von da aus das Land Israel definiert, und die weitere und nähere Nachbarschaft so wie die ganze jeweils bekannte Welt nachordnet. Es ist das klimatisch günstigste Gebiet, das den Nachkommen Sems zuteil wird, und innerhalb dieses geographischen Raumes erhält dann auch Israel seinen zugewiesenen Platz. Auf dieses Ziel hin führt die Generationenfolge von Sem bis Abram/Abraham.
Sem wurde übrigens mit Melchizedek von Gen 14,18–20 identifiziert, dem Priesterkönig von Salem, worunter man Jerusalem verstand. Melchizedek galt in diesem Sinne als Urtyp der engeren Jerusalemer Tempelpriesterschaft und schließlich auch als ihr überirdischer Repräsentant.34 Und die Szene der Zehententrichtung in Gen 14,18–20 diente als Begründung der kultischen Abgabenordnung, die damit noch vor der Offenbarung und Kultgründung am Sinai angesetzt wird.
3.1 Der Abrahamsbund. Die Erwählung und das Bundeszeichen der Beschneidung
Laut Gen 12 befahl Gott dem Abraham, ins Land Kanaan zu ziehen. Die Konstruktion der Genealogie auf Abraham hin und danach von Abraham aus über Isaak, Jakob und die Jakobssöhne begründet »Israel« vorweg, eine Größe, die historisch erst viel später zustande kam.
Zeichen dieses Bundes zwischen Abraham und Gott (Gen 15 und 17) ist die Beschneidung der männlichen Israeliten, der erste wichtige Ritus im Lebenszyklus (s. Teil IV 6.1). Inhalt dieses Bundes ist die Verheißung einer Nachkommenschaft über Isaak/Jakob (s. Reader, Nr. 5) und der Besitz des Landes. Das Land Israel und darin wieder Jerusalem/Zion, die »Stadt des Heiligtums«, bilden mit der Torah, deren eigentlicher Geltungsbereich das Land Israel darstellt, den zentralen Bezugspunkt für alle traditionsbewussten Juden (s. Reader, Nr. 11).
Gebot und Praxis der Beschneidung implizieren eine vorrangige Stellung des Mannes. Und dem entspricht auch seine erbrechtliche Stellung, insbesondere die Sonderstellung des erstgeborenen Sohnes. Nur der Mann ist auf die volle Torahpraxis verpflichtet, er gilt mit dem 13. Lebensjahr als bar miçwah (Gebotspflichtiger), was die zweite wichtige Station im Lebenszyklus (s. Teil IV 6.4) bedeutet. Im Reformjudentum wurde für die Töchter eine entsprechende Feier eingeführt und man spricht von einer bat miçwah. Traditionell ist der Mann – insbesondere in seiner Rolle als Familienoberhaupt – für die Erfüllung der religiösen Pflichten der Seinen verantwortlich. Und das, obwohl bereits in der Antike als Jude nur anerkannt wurde, wer von einer jüdischen Mutter abstammt. Die schöpfungstheologische Begründung des Verhältnisses von Mann und Frau (Gen 1,27) wird also durch eine erwählungstheologische ergänzt und differenziert. Die Kultgründung am Sinai (s. u.) bringt eine weitere, kultisch-rituelle Differenzierung von großer sozialer Reichweite mit sich.
Die Bestimmung der Frau besteht so gesehen in erster Linie in der Erfüllung ihrer Rolle als Mutter, indem sie ihrem Mann zur Erfüllung des Fortpflanzungsgebots verhilft, dadurch die Kontinuität der Erwählungsgemeinschaft garantiert, und einen – nicht zuletzt auch religiös – intakten Hausstand gewährleistet. Das bedeutet im Alltag eine durchaus gewichtige Funktion, die auch unternehmerische Qualitäten erfordert (vgl. Prov. 31,10–21), und nach dem traditionellen Bildungsideal gilt es darüber hinaus, dem Mann möglichst viel freie Zeit zum Studium der Torah (s. u.) zu verschaffen.35 Nur in Ausnahmefällen erreichten Frauen selber eine dem männlichen Bildungsziel der Torahgelehrsamkeit vergleichbare Kompetenz.36 Hinsichtlich profaner Bildungsinhalte blieb der Frau aber ein weit größerer Spielraum, weil nur der Mann zum vollen Torahgehorsam verpflichtet ist. Das moderne Frauenbild hat auch im Judentum dieses