Die für den Bestand der Erwählungsgemeinschaft zentrale Bedeutung der Rolle der Frau und die Bindung der Zugehörigkeit zum Judentum an eine jüdische Mutter bedingt eine eher negative Einstellung zu nichtjüdischen Frauen.38 Eine Mischehe ist grundsätzlich unmöglich, eine Nichtjüdin muss also zuerst zum Judentum konvertieren, bevor ein Jude mit ihr eine nach jüdischem Recht gültige Ehe eingehen kann. Heutzutage sehen sich die Gemeinden allerdings mit einer wachsenden Zahl von Mischehen konfrontiert.39 In Kreisen des modernen Reformjudentums hat sich in diesen Fragen eine relativ liberale Praxis durchgesetzt, was aber den Abstand zu den orthodoxen Gemeinschaften vergrößert.
Man kann im Einzelfall auch Israelit bzw. Jude werden, also sich zum Judentum bekehren und so Mitglied sowohl der religiösen wie ethnischen Größe »Israel« werden.40 Ein solcher ger çädäq oder »Proselyt« (griechisch: »Hinzugekommener«) muss sich vom »Fremdkult« lossagen, sich beschneiden lassen, ein rituelles Tauchbad (»Proselytentaufe«) nehmen und dann die erste Kultteilnahme bzw. Gebotserfüllung vollziehen; danach gilt er als ein »Sohn Abrahams«. Missioniert wurde kaum, aber die Haltung nichtjüdischen Personals erforderte zumindest dessen teilweise Bekehrung zum Judentum, um eine korrekte rituelle Praxis im jüdischen Haushalt zu gewährleisten.
In der Tradition wurde Abraham zum ersten Philosophen und zum ersten Monotheisten stilisiert.41 In seiner Heimat Ur in Mesopotamien entdeckte er die Nichtigkeit der Götzen und wurde dafür unter Nimrod, dem ersten in einer Reihe gottfeindlicher Herrscher, beinahe zum Märtyrer. Im verheißenen Land errichtet er Altäre für den Kult seines Gottes und begründet den wahren Gottesdienst bzw. den Kult des wahren und einzigen Gottes. Dabei nahm er Gebote der Sinai-Torah vorweg, der an sich vorzeitlichen Torah. Abraham wird bei Juden, Christen und Muslimen als Vater des wahren Gottesglaubens geehrt.42
Nach Gen 22 hat Gott Abraham auf die Probe gestellt, indem er ihm befahl, seinen »einzigen« Sohn, Isaak (im Islam: Ismael), als Ganzbrandopfer darzubringen. Und da Abraham gehorsam war, durfte er anstelle seines Sohnes einen Widder darbringen. In der jüdischen Tradition diente diese Geschichte als Kultätiologie des Sühnopferkults am Jerusalemer Tempelberg, den bereits 2 Chr 3,1–2 mit dem Berg Moria gleichsetzte. An der Stelle dieses Altars soll sich zudem das Grab Adams befinden und christliche Legenden verknüpfen damit auch noch Golgotha. Schon in der Spätantike verbanden sich mit der Opferszene, die auch in Fußbodenmosaiken von Synagogen auftaucht, Motive der Martyrologie. Isaak soll bereits erwachsen gewesen sein und sich dem Gebot Gottes freiwillig gefügt haben. Im Mittelalter kam es gelegentlich zu Selbstmord- und Tötungsaktionen zur Vermeidung von Zwangsbekehrungen. Diese grausame Szenerie wurde als `aqedah verstanden und in einer eigenen liturgischen Gedichtgattung beschrieben, was die emotionale Komponente verstärkt hat. Gen 22,1–24 wird im täglichen Morgengebet rezitiert und dient als Festlesung am Tag II des Neujahrsfestes.
Mit Abraham und seinen unmittelbaren Nachkommen erreicht der heilsgeschichtliche Verlauf nach Sem eine zweite Verengung, doch die Nachkommenschaft besteht noch nicht aus Erben der Verheißung allein, denn der Ahnherr hatte Kinder von mehr als einer Frau: (1) Ismael, Sohn der Magd Hagar, gilt als Stammvater der Araber und symbolisiert später die islamische Weltmacht. Als geläufige Metapher dafür diente »Wildesel« (pärä′) aus Gen 16,12. Im Islam wird darum die Abrahamsgestalt entsprechend hoch verehrt. (2) Isaak, Sohn der Sarah, gilt als der erste Erbe der Verheißung. Doch auch Isaak hatte zwei Söhne, Zwillinge, (1) den Erstgeborenen Esau und (2) den jüngeren Jakob. Esau verkaufte seine Rechte als Erstgeborener (Gen 25,29–34) dem Jakob, bereute es jedoch und grollt diesem seither.
Esau gilt als Stammvater von Edom, Seit dem 1.Jh. n.Chr. diente der Name Edom als Bezeichnung für das Römische Reich, später auch für die christliche Weltmacht bzw. für das Christentum überhaupt.
Jakob, mit dem Alternativnamen »Israel«, wurde (Gen 29–30) zum Stammvater der gleichnamigen 12 Stämme Israels: Reuben, Simeon, Levi, Juda, Issachar, Sebulon (Kinder der Lea, dazu als Tochter Dinah); Josef bzw. Manasse und Efraim, Benjamin (Rahel-Söhne); Dan, Naftali (Bilha-Söhne); Gad, Ascher (Zilpa-Söhne).
Der Jakobssohn Levi gilt als Ahnherr des Jerusalemer Kultpersonals insgesamt. Er ist als solcher ebenfalls schon vor der Sinaioffenbarung im Amt, und seine Investitur erfolgte nach Jub 32 im Himmel. Er empfing von Jakob die Urtraditionen und gab sie seinen Nachkommen weiter. Der priesterliche Autoritäts- und Vorranganspruch wird damit ganz gezielt vor der Torahoffenbarung angesetzt, als vor- und überzeitlich ausgewiesen, in Analogie zur vorzeitlichen Torah, zum Sabbatzyklus und zur Priesterdienstordnung.
4. Das Exil im »Sklavenhaus« Ägypten und der Auszug unter Mose (Ex 1–15)
Der nach jüdischer Zeitrechnung im Jahr 2666 angesetzte »Exodus«, hebräischer Sippen aus Ägypten wurde in der Tradition zur Basis einer Befreiungs- und Erwählungsgeschichte der gesamten Jakobsnachkommenschaft »Israel« und zum Modell für Zukunftshoffnungen. Liturgisch wird der Exodus im jährlichen Päsach-Matzot-Fest vergegenwärtigt (s. Teil IV). Das Kollektivbewußtsein der Erwählungsgemeinschaft ermöglicht eine Identifizierung über alle Generationen hinweg: Jeder Israelit soll sich am Päsach-Abend (s. Reader, Nr. 6) so fühlen, als wäre er damals persönlich dabei gewesen. Der Pharao des Exodus, der mit seinem Streitwagenheer in den Fluten des Meeres versank, wurde nach Nimrod zum zweiten Typus des gott- und israelfeindlichen Herrschers. Und da Israel in Ägypten versklavt war, wurde die Befreiung durch den Exodus auch als Befreiung durch Gott und als Erwerb durch Gott verstanden. Israel gilt von daher als Gottes Volk im Sinne eines Sondereigentums (segûllah). Folglich ist im Unterschied zu ′ älohîm (Gott) der Gottesname JHWH auch der besondere Name des Gottes Israels. Aber wie dieses »Tetragramm« JHWH zugleich mit der Gottheit selbst von aller Schöpfung abgehoben wird, wird auch Israel von den anderen Völkern abgehoben.
5. Offenbarung bzw. Bundesschluss und Kultstiftung am Sinai (Ex 19ff)
5.1 Die Offenbarung durch Mose
Das Ziel des Exodus ist der Gottesberg, die Offenbarung der Torah und die Kultgründung durch Mose; und am Wochenfest, 50 Tage nach dem Päsachfest, wird dieses Ereignis liturgisch vergegenwärtigt. Erst am Sinai ist nach jüdischer Tradition Israel erst richtig als Gottesvolk konstituiert worden, und zwar als ein heiliges Volk unter priesterlichlevitischer Herrschaft (Ex 19,5). Gott habe damals dem Mose während 40 Tagen und Nächten eine Schriftliche Torah (im biblischen Pentateuch) diktiert, 248 Gebote (entsprechend der Zahl der Körperteile des Menschen) und 365 Verbote (nach der Anzahl der Tage des Jahres), und ihn außerdem eine Mündliche Torah gelehrt, die in der rabbinischen Tradition enthalten ist.43
Diese Torah wird dem Volk Israel allein und kollektiv als Erwählungsverpflichtung auferlegt, als Grundlage für alles weitere jüdische Recht (halakah) (s. Reader, Nr.8).44
Die Dekaloggebote (s. Reader, Nr. 8e) gelten als Teile der Schriftlichen Torah, ohne Sonderstatus, um eine Abwertung andere Torahinhalte zu vermeiden.45 Manchmal wurde der Dekalog allerdings auch als Inbegriff der Torah dargestellt, oder es wurde versucht, alle Torahgesetze aus ihm abzuleiten bzw. die gesetzliche Tradition anhand der Zehn Gebote zu ordnen. Auch eine gewisse