Die Paradieserzählung mit dem Sündenfall (Gen 2–3) und der Totschlag des Kain an seinem Bruder Abel (Gen 4,1–16) markieren die Zäsur zwischen dem »sehr guten« Urzustand und den späteren Verhältnissen.23 Die ersten Errungenschaften der Zivilisation und die Gründung von Städten, im Alten Orient ein festes Thema, wurden in der Bibel im Rahmen des Kainiterstammbaums aufgeführt (4,17–24) und skeptisch beurteilt; zusammen mit fragwürdigen Künsten wie Magie, Kosmetik und Waffentechnik.24 Diese zunehmende Verderbnis wurde freilich auch durch übermenschliche Mächte mitverursacht (Gen 6,1–4; vgl. Hen 6–11; Buch der Giganten).25 Schließlich endet die schematisch konstruierte Generationenfolge von Adam bis Noah (Gen 5) beinahe in der Sintflut (Gen 6–9), ebenfalls ein altes, weit verbreitetes Motiv.26 Die Bewertung der Urgeschichte ist also vernichtend: einzig Noah überlebt mit seiner Familie die Katastrophe. Alles Weitere steht schöpfungstheologisch gesehen nicht mehr unter dem Prädikat »sehr gut«, doch für Israel bietet die Torah einen Heilsweg und begründet die Hoffnung auf eine Restitution des Urzustandes am Ende der Geschichte bzw. die Erwartung einer Neuschöpfung.
Abgesehen vom Kainiterstammbaum (Gen 4,17 ff) behaupten Überlieferungen, die in Gen 6,1–4 knapp angedeutet und in anderen Kontexten (wie Hen 1–36) breiter ausgeführt werden, dass die Entwicklung der Menschheit maßgeblich durch ein Wissen bestimmt wird, das ambivalent bis negativ zu werten ist. Vor allem, weil ein Teil dieses Wissens durch gefallene Engel vermittelt wurde. Dem gegenüber stehen positive Wissenstraditionen, die von der Urzeit her über die Sintflut hinweg weitergegeben werden konnten. Auch dies beruht auf verbreiteten altorientalischen Vorstellungen.27 Das positive Wissen wurde teils von Adam her über Set weitergegeben, teils auf den Urvater Henoch (Gen 5,21–24; Jub 4,16–26; Henoch-Bücher), der sie von seinem Aufenthalt in himmlischen Regionen mitgebracht haben soll. Dahinter steht der Anspruch einer Bildungselite, von Schreibern, die vorrangig an Heiligtümern wirkten, also an Orten, deren mythische Qualität sowieso eine enge Beziehung zwischen himmlischem und irdischem Kultpersonal voraussetzte. Die Henochfigur wurde für die Folgezeit zum Inbegriff einer Bildungstradition, für die überirdischer Ursprung und eine Kontinuität von der Urzeit her behauptet wird.28 Henochs Lebensjahre, 365, entsprechen der Zahl der Tage des natürlichen Jahres fast genau, in den Kalendersystemen war aber diese schlecht teilbare Zahl nicht praktikabel anwendbar. Man wusste um diesen richtigen Sachverhalt und damit auch um die Unzulänglichkeit der gängigen Systeme. Der Gedanke, dass die Urverderbnis der Menschen eine gewisse Unordnung in der Schöpfungsordnung bewirkt hat, lag also nahe. Umso wichtiger erschien die Kontinuität einer Tradition dank einer genealogischen Reihe von Auserwählten, die das positive Urwissen kennen, das mit der »vollkommenen Torah« in eins fällt und auf »himmlischen Tafeln« von ewig her und auf immer festgeschrieben ist. Es ging dabei nicht nur um Spekulationen, sondern um die Begründung und Verteidigung von bestehenden Ordnungen und Ansprüchen. Das hat einen gewissen Zwang zur Systematisierung mit sich gebracht und in der Folge zu mehr oder weniger geschlossenen Weltbildern geführt. In der Spätantike bot die Stoa dafür Parallelerscheinungen, die man kaum als fremd empfinden konnte.
Mit der Gleichsetzung von Weisheit und Torah wird postuliert, dass alles Wissen aus der Torah als der Schöpfungsordnung stammt. Das hatte zwei gegenläufige Tendenzen zur Folge, die eine ist exklusiv, möchte sich mit der eigenen Überlieferung begnügen und lehnt alle »fremde« Weisheit ab, die andere ist inklusiv, begreift die fremde Weisheit als ursprüngliche Torahinhalte, die in die Völkerwelt geraten sind, und befürchtet in deren Annahme keinen Fremdeinfluss. In diesem Sinne wurden heidnische Philosophen wie Plato und Aristoteles sogar als Schüler des Mose bezeichnet und das Studium ihrer Werke als gebotene Wiedergewinnung von verlorenem, eigenem Bildungsgut gewertet. Die Spannung zwischen den beiden Tendenzen, die jener zwischen dem Hebräischen und der »fremden« Sprache entspricht, kennzeichnet die gesamte jüdische Kultur- und Geistesgeschichte.29
2. Neubeginn und erneute qualitative Differenzierung
2.1 Der Noahbund und die sieben noachidischen Gebote
Noah anerkennt die Gnade Gottes mit dem Bau eines Altars und einem Opfer, also mit einer Kultgründung. Von daher wurde erschlossen, dass es eine für alle Menschen mögliche und angemessene Gottesverehrung gibt. Gott verheißt, die Erde wegen der Menschen in Zukunft nicht mehr so heimzusuchen, was dann laut Gen 9,8–12 in einem »Bund« besiegelt wurde. Die Verheißung, die Schöpfung in Zukunft zu erhalten, schließt nach manchen Auslegern die Forderung nach entsprechendem umweltgemäßem Verhalten auch des Menschen ein.30 Das Hauptanliegen gilt indes auch hier der Torah. Um das Tun und Lassen der Nichtjuden als verantwortbares Handeln ahnden zu können, wird Noahs Kultgründung mit einer Bundesverpflichtung ergänzt. Gen 9 setzt mit einem göttlichen Segen für Noah und dessen Söhne ein, der die Aussagen in Gen 1,28–30 aufnimmt und der neuen Situation anpasst. Gott sagt die Herrschaft über die belebte Schöpfung zu, die Erlaubnis Fleisch (nicht aber Blut) zu essen, und stellt das Vergießen von Menschenblut unter Todesstrafe. Man hat schon in der talmudischen Literatur von Geboten Gottes gesprochen, die bereits vor der Torahoffenbarung am Sinai allen Menschen gegeben wurden (s. Reader, Nr. 4). Diese sog. sieben Gebote Noahs enthalten bemerkenswerter Weise das Gen 9,7 ausdrücklich erwähnte Vermehrungsgebot nicht, das allein auf Israel bezogen wird.
Als noachidische Gebote wurden schließlich festgehalten: die Verbote von (1) Götzendienst und (2) Gotteslästerung, (3) Blutvergießen, (4) Diebstahl, (5) Inzest, sowie (6) des Genusses von rituell nicht zulässigem Fleisch. Und dazu kommt noch (7) das Gebot zur Einrichtung einer gerechten Rechtsordnung. Dieses Konzept einer Uroffenbarung, die alle Menschen verpflichtet und einer Verantwortung unterwirft, spielt im jüdischen Denken und im jüdischen Recht eine grundlegende Rolle bei der Bestimmung des Verhältnisses zur nichtjüdischen Welt.31 Die traditionelle Aufzählung wird in der Moderne meist modifiziert. Dabei kommt dem Gebot zur Erstellung einer gerechten Rechtsordnung ein besonderes Gewicht zu, weil die Existenz einer solchen für die meist in vielen Ländern und Staaten zerstreut lebenden, auf die Torah verpflichteten Juden die Möglichkeit eines modus vivendi bietet.
Der monotheistische Anspruch wird nicht auf Grund philosophischer und theologischer Überlegungen gestellt, sondern für den Gott Israels, und dieser Unterschied zwischen einem – wenn auch richtig – erdachten Gott und dem lebendigen Gott der Heilsgeschichte Israels wurde von Zeit zu Zeit immer wieder betont. Da ein monotheistischer Anspruch selten als solcher, also nur theoretisch, angemeldet wird, sondern fast durchwegs durch eine organisierte Religion oder/und eine politische Macht,