Von da aus beurteilt, konnte die Richterzeit als Periode einer unmittelbareren Herrschaft Gottes über Israel gelten und auch glorifiziert werden; so in der Moderne durch Martin Buber, der dafür den Begriff Theopolitik geprägt hat, bei ihm allerdings abgelöst von der traditionellen Torahtheologie. Das politische Denken des Judentums ist jedenfalls bis heute von der Voraussetzung bestimmt worden, dass die Torah im Grunde auch die gottgewollte politisch-soziale Ordnung Israels darstellt.61
Die monarchische Herrschaftsform hat nach dem 1. Samuelbuch in Israel als Mittel der Selbstbehauptung angesichts kriegerischer Bedrohung Eingang gefunden. Der vorprogrammierte Konflikt mit dem Alleinherrschaftsanspruch Gottes scheint aufgelöst, wenn das Gottesvolk (und damit ein jüdischer Staat) sich als Werkzeug Gottes zur Durchsetzung der Gottesherrschaft versteht und damit eine messianische Funktion zu erfüllen glaubt. Die messianische Erwartung bzw. eine (pseudo-) messianische Bewegung erweist sich sowohl politisch wie religiös als Versuchung, die eigene aktuelle Situation als eine endzeitliche zu verabsolutieren.
Nachhaltig hat auf das spätere Geschichtsbild die Schwarz-Weiß-Malerei der Bücher Samuel eingewirkt. Saul versagte als »Gesalbter des JHWH«,62 als theokratisch legitimierter Herrscher, der die »Kriege des JHWH« zu führen hat, weil er das Gebot der Ausrottung Amaleks nicht befolgte (1 Sam 15/1 Chr 10). Er wurde als Typus des ungehorsamen Gesalbten stilisiert.63 David hingegen wird ungeachtet manch dunkler Seiten seiner Geschichte zum Typus des torahgehorsamen Gesalbten. Durch seine Kriege sicherte er den Besitz des Landes und weitete dessen Grenzen aus, und sein Torahgehorsam gewährleistete nach 2 Sam 7 auch die dynastische Erbfolge. Für die Geschichte der jüdischen Religion war seine in Personalunion und im Namen des JHWH-Kultes ausgeübte Herrschaft über die beiden vereinten Königreiche Judah und Israel von grundlegender Bedeutung. Sie begründete verklärt das Bewusstsein einer Einheit namens Israel, für die später Jerusalem/Zion zum Symbol wurde, und gab dem Begriff Gott Israels einen dementsprechenden Inhalt. So wurde auch der Davidssohn zum Idealherrscher der Heilszukunft, zum »Gesalbten (König)« schlechthin, zum Repräsentanten der Gottesherrschaft,64 die man allen Enttäuschungen zum Trotz immer wieder erhofft.65 Der erwartete »Gesalbte« soll Israel von aller Fremdherrschaft befreien und Verhältnisse schaffen, die eine ungehinderte Torahpraxis ermöglichen. Aber er ist kein Erlöser im Sinne der christlichen Messiasauffassung bzw. Christologie (s. Reader, Nr. 12.2).
David gilt auch ferner als geistbegabter Autor liturgischer Dichtungen (s. Reader, Nr. 13) und als Organisator des Jerusalemer Kultbetriebes. Denn nachdem er die Bundeslade nach Jerusalem überführt hatte (2 Sam 6/1 Chr 15,1–16,6) soll er alles Nötige für den Tempelbau und den Kultbetrieb vorbereitet haben, alles gemäß der Torah und nach einem himmlischen Modell (2 Sam 24/1 Chr 21; 1 Chr 22–26; 28,11–21).
8.3 König Salomo und der Erste Tempel
Mit König Salomo haben sich drei Vorstellungskomplexe verbunden. Er gilt als friedliebender und weiser König, und daher werden die alten jüdischen Weisheitstraditionen auf ihn zurückgeführt. Zu seinen Kenntnissen gehörte angeblich auch die Magie, und mit ihrer Hilfe soll er in der Lage gewesen sein, Dämonen dienstbar zu machen.66 Am meisten Nachruhm brachte ihm aber der Tempel- und Palastbau in Jerusalem ein.67 Im Alten Orient galt jedes große Heiligtum als Repräsentation des Kosmos und als Nabel der Welt, als mythischer Ort, wo Himmlisches und Irdisches ineinander greifen. Der regelmäßige Kult hat die Aufgabe, die Ordnung des Kosmos aufrecht zu erhalten, und die Opfer sorgen für die Entsühnung des Kultpersonals, des Königs, des Volkes und des Landes. Auch die Feier der großen, jahreszeitlich gebundenen agrarischen Feste war an den Tempel gebunden, doch erhielten diese auch noch eine heilsgeschichtliche Bedeutung im Sinne der Vergegenwärtigung der großen Heilstaten Gottes an Israel.
8.4 Die Könige von Juda und Israel
Unter Salomos Sohn und Nachfolger Rehabeam trennten sich die Nordstämme von der davidischen Dynastie und gründeten unter Jerobeam I. das Königreich Israel. Vom Jerusalemer Hof aus beurteilt, war dies mehr als nur politische Abtrünnigkeit. Nach der Reichsteilung kam es nämlich zur Einrichtung eigener Staatsheiligtümer, Dan im Norden und Bethel im Süden, und diese Sünde Jerobeams ist sprichwörtlich geworden und hat wohl auch die Ausformung der Geschichte vom Kult des goldenen Kalbes am Sinai (Ex 32) inspiriert. Die Jerusalemer Tradition sah in der Eroberung und Annexion des Nordreichs durch die Assyrer im Jahr 722 v.Chr. folgerichtig die Strafe für den Abfall. Sie behauptet, dass fast alle Nordisraeliten nach Mesopotamien deportiert und dort verschollen sind und spricht daher von den zehn verlorenen Stämmen, deren Wiederauftauchen man zu Beginn der messianischen Herrschaft erhofft.68
Die Könige, auch die eigenen Könige aus Davids Geschlecht, beurteilte die Jerusalemer Tradition nach deren Verhalten im Sinne der Torahnormen.69 Und da 701 v.Chr. die Assyrer nach einer längeren Belagerung Jerusalems unter Sanherib unversehens abzogen, wurde diese Rettung zu einem heilsgeschichtlichen Exempel und eine Bestätigung des Jerusalemer Anspruchs, ganz Israel zu repräsentieren und den einzig gültigen Kult Israels, den JHWH-Kult, zu praktizieren. In der Tat sind in der letzten Phase der Königszeit die regionalen und lokalen Heiligtümer aufgelöst und der Kult in Jerusalem zentralisiert und »levitisiert« worden.
Im Jahr 587/6 v.Chr. eroberte der babylonische König Nebukadnezar das rebellische Königreich Juda, verwandelte es in eine babylonische Provinz und zerstörte den Tempel von Jerusalem. Diese Negativerfahrung stellte den Glauben an die Macht des Gottes Israels in Frage. Von nun an war das Problem der übermächtigen Weltmacht ein zentrales Thema der jüdischen Religion und man wünschte sich natürlich, dass der jeweilige fremde Herrscher zur Anerkennung des Gottes Israels als des einzigen wahren Gottes gelangt, was in allerlei Legenden auch so dargestellt wird.70
Das Ende der staatlichen Selbstständigkeit und der davidischen Herrschaft wurde als tiefer Einschnitt in den Lauf der Geschichte Israels erfahren, aber als noch folgenreicher empfand man die Zerstörung des Tempels. Sie musste angesichts seiner kosmologischen Symbolik