Aus den Erzählungen über die 40 Jahre der Wüstenwanderung (Lev-Num), deren Vergegenwärtigung am Sukkot-Fest bzw. Laubhüttenfest im Herbst liturgisch begangen wird, haben zwei Episoden eine nachhaltige Bedeutung erlangt.
Der Krieg mit Amalek (Ex 17,8–16): Der Esau-Enkel Amalek wurde zum Typus des jeweils aktuellen Todfeindes Israels.57 Seine Vernichtung und die Austilgung jeder Erinnerung an ihn ist verbindliche Pflicht (Dt 25,17–19).
Der Tod des Priesters Aaron und die Einsetzung seines Sohnes Eleazar als Nachfolger (Num 20,22–29) setzt zwar die Erbfolge schon voraus, aber diese wird noch einmal durch den Zelotismus des Priesters und Heerführers Pinchas (Num 25) genauer definiert, und dabei ist von einem Priesterbund die Rede. Pinchas wird neben dem Propheten Elias zum Vorbild für zelotisches Handeln im Fall eines Rechtsnotstandes. Demgegenüber erfolgt – teilweise konkurrierend – die Einsetzung des nicht aus dem Stamm Levi stammenden Josua als Nachfolger des Mose in dessen politisch-militärische Funktion (Num 26,12–23). Diese herrscherliche Gewalt ist delegierte Gewalt, Josua wird (Num 27,19) durch den Priester Eleazar eingesetzt. Die Spannung zwischen priesterlichem Vorranganspruch und königlich-staatlicher Gewalt kennzeichnet die jüdische Geschichte bis zur Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.Chr. Danach tritt an die Stelle des priesterlichen Anspruchs und der priesterlichen Torah-Kompetenz der Anspruch der rabbinischen Torahgelehrsamkeit. So blieb diese Spannung eigentlich weiter erhalten, und im modernen Staat Israel kommt sie auch wieder institutionell verankert zur Wirkung.
Da die Torah alle Lebensbereiche abdeckt, also auch die richtige politische und soziale Ordnung beinhaltet, ist grundsätzlich ein theokratisches Herrschaftskonzept vorgegeben und säkulare Staatskonzepte für einen Judenstaat stoßen auf traditionalistischer Seite auf tief verwurzelte Vorbehalte,58 andrerseits können sich moderne jüdische Richtungen und säkulare Juden mit der Torah-Theokratie der Tradition nicht mehr identifizieren.
Im Blick auf nichtjüdische Staaten hingegen verlangt das oben erwähnte Konzept der Noachidischen Gebote eher ein religiös neutrales Staatswesen bzw. eine staatliche Ordnung, die der jüdischen Torahpraxis möglichst keine Schranken setzt.
Der Zug durch die Wüste hin an die Grenzen des verheißenen Landes hat für jüdisches Geschichtsbewusstsein den Charakter einer Periode der Erprobung und Läuterung, als Vorbereitung auf die Erfüllung der Verheißungen erhalten. Auch die Heimkehr aus dem babylonischen Exil 538 v.Chr. und die Übergangszeit zum endgeschichtlichen Heilszustand, der messianischen Herrschaft bzw. Gottesherrschaft, wurden darum später als Wüstenzug umschrieben.
7. Die Landnahme und das Land Israel
Die Landverheißungen setzen voraus, dass Gott über das Land verfügt und er es Israel zur Verfügung stellt. Die dort ansässigen sieben Völker hatten daher die Wahl, sich zu unterwerfen und das Land für die Israeliten freiwillig zu räumen, oder dem Bann zu verfallen, der kriegerischen Unterwerfung mit Ausrottung aller männlichen Bewohner.
Dem verheißenen Land kommt nach jüdischer Tradition eine einzigartige Qualität zu, denn es ist als Land Israel der Bereich, in dem die Torah in allen ihren Detailbestimmungen praktiziert werden und damit die Gottesherrschaft durchgesetzt werden kann, und auch Prophetie ist nur in diesem Lande möglich.59 Die Grenzen des Landes Israel markieren also einen heiligen Bereich, in dem kein Fremdkult geduldet werden darf. Es ist folgerichtig ein Gebot, Fremdkultstätten im Land Israel zu zerstören, und Götzendiener darin nicht zu dulden. Wer sich als Fremder im Land Israel vorübergehend (als ger tôšab, Beisasse) aufhalten möchte, muss daher seine angestammte Religionsausübung aufgeben und die noachidischen Gebote einhalten (s. Reader, Nr. 4 und 11). Eine klare und einheitliche Definition der Grenzen des Landes gibt es im jüdischen Recht allerdings nicht, so dass die Vorstellungen über sein Ausmaß noch heute differieren. Die Landnahme wird im Buch Josua der Bibel als planvolle, gesamtisraelitische Eroberung des Landes Kanaan dargestellt. Und nach jüdischem Recht gilt zudem: Was immer durch einen autorisierten Wahlkrieg bzw. Angriffskrieg hinzu erobert wird, gilt genau so als Land Israel wie das einst unter Josua eingenommene.
Die jüdische Rechtstradition hat mit der Landnahme drei Vorschriften verbunden: »Drei Gebote sind Israel zur Zeit des Eintritts ins Land befohlen worden: (1) Sich einen König zu ernennen, denn es heißt (Dt 17,15): sollst du über dich setzen einen König (vgl. Mose b. Maimon, Sefär ha-Miçwôt, Gebot 173). (2) Die Nachkommenschaft Amaleks auszurotten, denn es heißt (Dt 25,19): Du sollst austilgen das Andenken Amaleks (a.a.O. Gebot 188); (3) Das Haus der Erwählung (den Tempel) zu bauen, denn es heißt (EX 24,8): Und sie sollen mir ein Heiligtum machen (MT, Hilkôt melakîm I, 1).«
8. Von der Landnahme bis zur Zerstörung des Ersten Tempels
Die Bücher Josua, Richter, 1–2 Samuel und 1–2 Könige, die »Frühen Propheten«, werden in der atl. Wissenschaft als deuteronomistisches Geschichtswerk bezeichnet. Kennzeichnend ist eine schematisierte Geschichtsauffassung, auf Grund deren Personen und Ereignisse danach positiv oder negativ bewertet werden, ob sie den Forderungen der Torah entsprechen oder nicht. Israels Geschick hängt also von seiner Torahpraxis ab, und weil Israel als einziges Volk auf die Torah verpflichtet ist, kommt ihm eine Art Stellvertreterrolle zu: für den Lauf der Heilsgeschichte ist allein Israels Verhalten relevant, die Völker ringsum sind nur soweit von Bedeutung, als sie Israel behindern oder gewähren lassen und eventuell sogar fördern. Diese Überzeugung kennzeichnet das jüdische Geschichtsbewusstsein insgesamt.
Die Periode der Richter hat vergleichsweise wenig Eindruck hinterlassen. Es gilt vielmehr, dass die nach dem Tod Josuas amtierenden »Ältesten« ihren Aufgaben nur unzureichend gerecht geworden sind. Gott musste Israel daher von Zeit zu Zeit durch eine charismatische Retterfigur vor dem Schlimmsten bewahren. Der Höhepunkt der Fehlentwicklung wurde unter dem Priester Eli am Heiligtum der Bundeslade zu Schilo erreicht, doch mit der Berufung des Samuel und danach mit der Herrschaft Davids und Salomos setzt wieder eine positivere Entwicklung ein. Das Feindbild, das die Schilderung dieser Periode bestimmt, stellen die (unbeschnittenen!) Philister dar, die aus dem Heiligtum von Schilo die Bundeslade als Beute mit sich genommen hatten und Israel lange Zeit zu unterwerfen suchten.
8.2 Saul und David: Der ungehorsame und der gehorsame Gesalbte des HERRN
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