Die Einheit und Besonderheit Israels unter den Völkern wird in der Tradition nicht nur abstammungsmäßig, sondern auch traditionsgeschichtlich und erwählungsgeschichtlich begründet: Von Adam über Seth, Henoch und den Noah-Sohn Sem führt eine Linie von Urahnen und Traditionsträgern zu Abraham, Isaak und Jakob/Israel. Die 12 Söhne Jakobs gelten als Ahnherren der 12 Stämme Israels; darunter gilt Levi als Kultdiener-Stamm. Das ergibt eine dreigeteilte Rangfolge bzw. soziologische Makrostruktur: Priester (mit dem Hohepriester an der Spitze), Leviten (Kultdiener, Funktionäre in Verwaltung und Rechtswesen) und (normale) Israeliten bzw. Laien, eventuell mit einem König Israels an der Spitze. Mit der Tempelzerstörung im Jahr 70 n. Chr. verloren Priester und Leviten zwar ihre bis dahin dominante Position, die Voraussetzung einer (patrilinear!) abstammungsmäßig definierten Kultdienerschaft (Priester und Leviten) blieb aber in Geltung und bedingt gewisse Ehren-Vorrechte. Seither werden Sozialgefüge und Sozialprestige durch zwei Faktoren dominiert: die wirtschaftliche Elite, die in der Lage ist, den Bestand der Gruppe zu gewährleisten, und eine Gelehrtenschicht, deren Autorität die alte priesterliche Autorität und religiöse Kompetenz ersetzt.
1 Vgl. dazu KLEIMAN, Y., DNA and Tradition, Jerusalem 2004.
Teil II. Die geglaubte Geschichte in der jüdischen Religion
Das Judentum gilt als geschichtsbewusste Religion mit der Vorstellung von einem linearen, zielgerichteten Geschichtslauf als Kennzeichen. Man hat oft versucht, Entsprechungen und Unterschiede zwischen griechisch-hellenistischem und biblisch-jüdischem Geschichts- und Zeitverständnis aufzuzeigen, und manchmal sogar Gegensätze postuliert.1 Wirklich eigentümlich ist Seite jedoch das Bemühen, die geglaubte Geschichte in einem universalgeschichtlichen Rahmen darzubieten, so dass der eigene Anspruch geschichtlich und sogar vorgeschichtlich begründet wird und die Realisierung dieses Anspruchs als Ziel aller Geschichte überhaupt erscheint. Die zielgerichtete Sicht schließt allerdings die Vorstellung von zyklischen Vorgängen keineswegs aus, und dazu trägt auch eine Neigung zu schematischen Periodisierungen bei. Alle religiösen Grundvorstellungen haben ihren eigentlichen Platz im Rahmen der geglaubten Geschichte,2 einige davon wurden infolge der Säkularisierung durch ideologisch motivierte teils ersetzt, teils durchsetzt,3 und die Vertreter solcher Geschichtsbilder übertragen gern den Autoritätsanspruch der Tradition auf die eigene Position.
1. Die Verankerung in Schöpfungs- und Urgeschichte
Im Orient kannte man schon früh Überlieferungen bezüglich der Entstehung der Welt, der Bedrohung ihres Bestandes durch Chaosmächte, und der Entwicklung kulturell-zivilisatorischer Errungenschaften bis zur Katastrophe einer großen Flut. Was in der Umwelt im Rahmen der polytheistischen Götterwelt und auf der Basis mythischer Vorstellungen dargelegt wird, erscheint auf dem Boden der JHWH-Religion als Geschichte der Welt- und Menschenschöpfung durch einen Gott und als Urgeschichte der Menschheit.4 Aber das Interesse galt nicht spekulativen Weltentstehungserklärungen, sondern der Konstruktion eines nach Generationen bzw. Lebenszeitdaten geordneten Geschichtsverlaufs, der mit der Weltschöpfung (Gen 1–2) einsetzt, mit der Sintflut aber beinahe wieder endet, dann mit den Noahsöhnen Sem, Ham und Jafet neu beginnt, um diese universale Urgeschichte auf die eigene Gemeinschaft und den eigenen Kult hin zuzuspitzen. Die Urgeschichte der Menschheit dient als Vorspann zur Geschichte Israels.
Eine in der priesterlichen Bildungstradition ausgefeilte Darstellung (Gen 1,1–2,4) setzt eine Weltschöpfung durch Gottesworte voraus.5 Zehn Schöpfungsworte (ma′ amarôt) zählt man, und sie wurden in der weiteren Folge zu einem schöpfungstheologischen Hauptmotiv.6 Als direkte Gottesrede gelten auch die Proklamation der Zehn Gebote (dibberôt) am Sinai (Ex 20), und dreizehn Wirkungsweisen (middôt) Gottes, die man aus Ex 34,6b–8 herausliest Von daher hat das Hebräische seinen Ruf als Sprache der Schöpfung erhalten. Bis zur Moderne herauf wurden (auch unter Christen) die anderen Sprachen in ihrem Verhältnis zum Hebräischen beurteilt und diesem als der Ursprache nachgeordnet.7 Das Hebräische blieb demgemäß auch die Sprache der religiösen Tradition, insbesondere der gesetzlichen. Die Rolle als Schöpfungssprache gilt auch für die Schrift. Die 22 Schriftzeichen (Konsonanten) des Hebräischen, die zugleich als Zahlzeichen dienen, wurden als Schöpfungspotenzen gedeutet, was eine reiche Buchstaben- und Zahlensymbolik nach sich gezogen hat.8 Die 22 Konsonanten und die Zahlen 1–10 ergeben zusammen die 32 »Wege der Weisheit«, seit der Spätantike eine Grundlage für allerlei Spekulationen. Etwa die Gematrie, wobei der Zahlenwert von Buchstaben, Wörtern, Sätzen und ganzen Texteinheiten errechnet, daraus eine besondere Bedeutung erschlossen und mit der Zahlensymbolik verbunden wird. Solche Vorstellungen waren auch in der Umwelt gang und gäbe,9 das Besondere ihrer jüdischen Anwendung liegt im Bezug auf die Torah als Schöpfungsordnung. Und natürlich standen dabei Buchstaben und Zahlenwerte biblischer Gottesbezeichnungen im Zentrum des Interesses. Heute werden dafür (manchmal bis zum Exzess) die Möglichkeiten der EDV genutzt.
Für Juden blieb das Hebräische folglich die eigentlich angemessene, eigene Sprache,10 andere Sprachen bezeichnete man gern als Fremdsprache (la`az) oder als »ihre Sprache«.
1.3 Die Siebentagewoche und der Sabbat
Die Zahleneinheit Sieben wurde Grundlage für zahlreiche kosmologische und chronographische Ausführungen. Der Schöpfungsvorgang verteilt sich auf sechs Wochentage mit dem siebten Tag als Ruhetag als Abschluss. Im traditionellen liturgischen Jahreszyklus wird die Schöpfung mit dem Neujahrsfest verknüpft.
1. Tag Sonntag |
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