Unterrichtsidee
So schlägt sie zu dem oben zitierten Gedicht Konjugation von Steinmetz, das mit dem Verb „gehen“ arbeitet, vor, dass die Lernenden eigene Texte schreiben, die die Struktur des Gedichts aufnehmen. Dabei geht es um die Orientierung am Konjugationsparadigma der Verben im Präsens und darum, diese Auseinandersetzung mit einer zentralen sprachlichen Struktur des Deutschen durch eine Pointe am Schluss um eine kreative Dimension zu ergänzen. Für diese Aufgabe gibt Belke (2011: 18f.) andere es-Verben als Grundlage vor. Die folgenden Texte hat sie von ihren Schüler*innen erhalten:
ich laufe
ich friere
ich klingele
du läufst
du frierst
du klingelst
er läuft
er friert
er klingelt
sie läuft
sie friert
sie klingelt
es läuft
es friert
es klingelt
Wie läuft’s?
Friert es?
Klingelt es?
Danke, es läuft zurzeit
Letzte Nacht hat es in
Ja, schon mehrmals!
ganz gut!
den Bergen gefroren!
Mach endlich die Tür auf!
Ihr Verfahren nennt Belke generatives Schreiben. Im Sinne von Roman Jakobson (→ Kap. 1) argumentiert sie, die poetische Funktion der Sprache lenkt „die Aufmerksamkeit des Lernenden auf die Sprache selbst und schärft so das Wahrnehmungsvermögen für die verwendeten sprachlichen Mittel“ (Belke 2011: 16). Sie verortet ihren Ansatz in einer Didaktik der Mehrsprachigkeit, die Mehrsprachigkeit nicht als „Problem“ versteht, sondern als „Ressource“ (Belke 2009b: 1, Hervorh. i.O.) nutzen möchte (→ Kap. 13), sieht den „[k]reative[n] Umgang mit Texten als Grundlage der impliziten Sprachvermittlung“ (ebd.: 11), gleichermaßen für Kinder, die Deutsch als L1, L2 oder eine weitere Sprache sprechen. In ihrem Kapitel Generatives Schreiben als methodisches Zentrum der Sprachvermittlung (ebd.: 12f.) führt sie aus, dass jedes Kind, das Schreiben lernt, die Sprache, in der es schreibt, zum zweiten Mal lernt, auch wenn es seine L1 ist. Dabei greift sie mit dem folgenden Zitat auf den Psychologen Lew Wygotski zurück, der in den 1920er Jahren in der Sowjetunion – in Gomel im heutigen Belarus und an der Universität in Moskau – seine Theorien zur Sprachentwicklung und allgemeinen Entwicklungspsychologie des Kindes ausgearbeitet hat: „Die geschriebene Sprache zwingt das Kind, intellektueller zu handeln. Sie zwingt es, sich den Prozeß des Sprechens selbst stärker bewusst zu machen.“ (Wygotski 1974 nach Belke 2009b: 12) Belke zufolge sollten das „Schreiben und der Prozess der Textherstellung auch zur systematischen Vermittlung grammatischer und orthografischer Normen und zur Reflexion über sprachliche Richtigkeit genutzt werden“ (Belke 2009b: 12, Hervorh. d. Verf.). Das generative Schreiben nimmt die Textstrukturen von Sprachspielen, Gedichten, kurzen literarischen Texten zum Ausgangspunkt. Die Lernenden orientieren sich an diesen beim Verfassen eigener Texte. So gelingt es ihnen, sich implizit mit sprachlichen Strukturen auseinanderzusetzen und Texte ohne grammatische und orthografische Fehler zu produzieren, die gleichzeitig individuell gewählte Inhalte formulieren. In ihrer Sammlung Mit Sprache(n) spielen von (2009a/2007) bietet Belke Gedichte, Kinderreime und Sprachspiele. Im dazugehörigen Kommentarband finden sich konkrete Vorschläge, wie die unterrichtliche Arbeit mit diesen Texten aussehen kann. In beiden Bänden sind die Texte z.T. nach grammatischen Kategorien geordnet, etwa nach Wortarten wie Verben, Artikel, Pronomen, Adjektive, Präpositionen.
Wie in den bisherigen Ausführungen deutlich wurde, wird für den Zugang zu literarischen Texten über ihre Sprachlichkeit und im Hinblick auf ihre Nutzung zum Erlernen sprachlicher bzw. grammatischer Strukturen besonders oft Lyrik verwendet.3 Daneben spielt auch Kurzprosa – zusammengestellt etwa in dem Band Aufschluss. Kurze deutsche Prosa im Unterricht Deutsch als Fremdsprache von Dietrich Krusche (1992/1987) – häufig eine Rolle, so auch in dem von Wolfgang Rug und Andreas Tomaszewski 1993 ursprünglich unter dem Titel Grammatik mit unSinn und Verstand, 2009 unter dem Titel Grammatik mit Sinn und Verstand publizierten Übungsmaterial für die Mittel- und Oberstufe. Gezielt verwenden Rug/Tomaszewski literarische Texte, um in die grammatischen Themen einzuführen, die sie in ihrem Band behandeln. Auf Doppelseiten, die unter der Überschrift „Lesepause“ jeweils den eigentlichen Kapiteln vorangestellt sind, finden sich Lyrik und Kurzprosa, denn die Lektüre literarischer Texte „beflügelt auch für die weitere Arbeit und macht Spaß“ (Rug/Tomaszewski 2009: 4). Auch in den Kapiteln werden immer wieder literarische Texte zur Illustration verwendet. Wenn es bspw. im Kapitel zum Konjunktiv II darum geht, dass Vergleichssätze mit „als“ oder „als ob“, die „kritisieren“, „übertreiben“, „prophetisch“ oder „poetisch“ klingen, oft in diesem Modus stehen – etwa die kritisierende Formulierung „Spiel dich doch nicht so auf, als wär(e)st du der Chef“ – wird auf eines der berühmtesten Gedichte der deutschen Spätromantik hingewiesen, auf Joseph von Eichendorffs Mondnacht (Rug/Tomaszewski 2009: 56):
Textbeispiel
Es war, als hättʼ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande
Als flöge sie nach Haus.4
Im Kapitel Zeit und Tempus wird unter dem Stichwort „Stil“ die „Wirkung der Ruhelosigkeit, der Endlosigkeit“, die oft mit der Verwendung des Präteritums verbunden sei, mit dem kurzen Text Gib’s auf von Franz Kafka illustriert (ebd.: 31):
Textbeispiel
Gib’s auf
Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: „Von mir willst du den Weg erfahren?“ „Ja“, sagte ich, „da ich ihn sonst nicht finden kann.“ „Gib’s auf, gib’s auf“, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.
Nicht nur zu Zwecken der Illustration, auch als Material für Übungen zu grammatischen Phänomenen werden literarische Texte verwendet – für die Verwendung des Konjunktiv I für die indirekte Rede etwa auch ein Text von Franz Kafka, Kleine Fabel (Rug/Tomaszewski 2009: 108):
Textbeispiel
„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird immer enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte. Ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe“ – „Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie auf.5
In den genannten