Wie mit dem Gedicht aus poststrukturalistischer Sicht gearbeitet werden kann mit dem Lehr- und Lernziel, den Lernenden die „Unlesbarkeit“ von literarischen Texten vorzuführen, lässt sich aus einem Beitrag von Michael Dobstadt ableiten. Wie Harald Weinrich und Gerlind Belke argumentiert auch er ausgehend von Jakobson (→ Kap. 1) und macht die poetische Funktion der Sprache, die er mit dem Begriff der Literarizität fasst, zum zentralen Punkt seiner Argumentation. Diese ziele darauf, die „vermeintlich enge Verbindung von Ausdruck und Bedeutung bzw. Referenz“ zu lockern (Dobstadt 2009: 24) und so versteht Dobstadt „Literarizität“ mit Rückgriff auf den poststrukturalistischen Denker Jacques Derrida als „suspended relation to meaning and reference“ (Derrida zit. n. Dobstadt 2009: 24, Hervorh. dort). Mit seinem Vorschlag geht es ihm einerseits um eine „Kritik an den überkommenen Deutungskonzepten“ im Fach Deutsch als Fremdsprache – etwa an der Rezeptionsästhetik (→ Kap. 8, 20), an den Arbeiten einer Interkulturellen Germanistik zur Xenologie und an einem Forschungszusammenhang zum Fremdverstehen (→ Kap. 8) – und andererseits darum, einen Vorschlag zu entwickeln, der die „Unausrechenbarkeit des literarischen Textes“ (ebd.: 26) berücksichtigt. Sein Fokus für die Arbeit mit literarischen Texten im Fach Deutsch als Fremdsprache liegt darauf, die Lernenden für die „Literarizität“ zu sensibilisieren, für die Begriffe wie „Unlesbarkeit“, „Unsagbarkeit“ und „Unentscheidbarkeit“ (ebd.) zentral wären. An dem Gedicht Wandrers Nachtlied führt Dobstadt vor, wie ein literarischer Text auf dieser theoretischen Basis gelesen werden kann. Zunächst formuliert er die übliche Deutung des Gedichts, der zufolge von „Gipfel“ über „Wipfel“, „Vögelein“ und „du“ eine Äquivalenzreihe hergestellt wird, die zeigt, wie von der unbelebten Natur über Flora und Fauna hin zum Menschen eine hierarchische Ordnung gedacht wird. Diese Vorstellung sieht er in dem Gedicht konterkariert durch die Anordnung der vier genannten Ausdrücke auf dem Papier. Dort steht an oberster Stelle der Ausdruck „Gipfel“ und an unterster Stelle der Ausdruck „du“, den er als allgemeine Bezeichnung für den Menschen auffasst. Durch diese Anordnung komme das Moment des „Un-“ in den Text: die Unausrechenbarkeit, Unlesbarkeit, Unsagbarkeit und Unentscheidbarkeit, wie der Text zu lesen sei. Denn die „Pointe des Textes ergibt sich daraus, dass mit dieser Äquivalenzreihe eine zweite kontrastiert“ (Dobstadt 2009: 24). Viele Lesarten sind möglich und die Sprache selbst weist auf ihre „suspended relation to meaning and reference“ hin. Dass bei der Arbeit mit literarischen Texten die Wahrnehmung der ästhetischen Dimension von Literatur und ihres Spielcharakters von zentraler Bedeutung ist – ein Konsens im Fach, der mehr oder weniger deutlich auch die Grundlage der vorgestellten Ansätze von Weinrich, Krusche/Krechel, Belke, Rug/Tomaszewski und Bernstein bildet – fasst Dobstadt in seiner Interpretation des Begriffs „Literarizität“: dass nämlich „Bedeutungen durch Literarizität immer auch subvertiert und ins Zwielicht gerückt werden“ (ebd.: 26). Auch wenn Dobstadt keinen konkreten Vorschlag für das unterrichtspraktische Vorgehen erarbeitet, lässt sich aus seiner Argumentation ableiten, dass man im Unterricht die Lernenden darauf hinweisen könne, dass auch die räumliche Verteilung des geschriebenen Gedichts auf dem Blatt bedeutungsbildende Prozesse auslöst. In seiner Argumentation ist das Gedicht von Goethe jedoch nur insofern von Belang, als es als Beispiel dafür verwendet wird, wie den Lernenden ein Einblick in ein poststrukturalistisches Sprachverständnis ermöglicht werden kann, das die Arbitrarität sprachlicher Zeichen als zentrale Kategorie wählt und auf dieser Basis das „Spiel der Signifikanten“ als „Unausrechenbarkeit“ von Sprache und also auch von literarischen Texten interpretiert.8
Unterrichtsidee
Ebenfalls mit dem Ziel, mit Lernenden die Arbitrarität sprachlicher Zeichen zu diskutieren, greifen Claire Kramsch und Michael Huffmaster auf Wandrers Nachtlied zurück. In einem Seminar mit Germanistikstudierenden in den USA haben sie mit dem Gedicht in vier Phasen gearbeitet. Zunächst haben sie den Studierenden die folgende Goethe-Zeichnung des Kickelhahn vorgelegt und sie gebeten, das Bild zu beschreiben.
Abb. 3:
Aussicht vom Kickelhahn bei Ilmenau 1776 von Goethe gezeichnet (Quelle: Goethezeitportal, www.goethezeitportal.de/wissen/topographische-ansichten/orte-und-zeiten-in-goethes-leben-kickelhahn.html)
In einem zweiten Schritt wurde den Studierenden das Gedicht vorgelesen; sie waren aufgefordert, es in einer Art Diktat zu verschriftlichen und fehlende Teile ggf. in Partnerarbeit zu ergänzen. Im dritten Schritt erhielten die Studierenden eine Druckfassung des Gedichts zur Lektüre mit der Aufforderung, Denotationen und Konnotationen zu notieren (Tageszeit, Jahreszeit, Geräusche). Der vierte Schritt umfasste für die Lernenden den Auftrag, das Gedicht als Hausaufgabe ins Englische bzw. Amerikanische zu übersetzen, in Gruppenarbeit die verschiedenen Übersetzungen zu besprechen und sich in der Gruppe auf jeweils eine Version zu einigen und diese im Plenum vorzustellen. Wie Kramsch/Huffmaster (2008) ausführen, wollten sie anhand der verschiedenen Aufgaben die Lernenden auf die Arbitrarität der Zeichen aufmerksam machen: mit der Vielfalt der Assoziationen in der ersten Phase, der auditiven Wahrnehmung in der zweiten Phase, den verschiedenen Denotationen und Konnotationen in der dritten Phase und mit den Übersetzungen und der Gruppendiskussion dazu, welche Version jeweils gewählt wird, in der vierten Phase. Wie eine im Anschluss daran durchgeführte Befragung der Lernenden ergeben hat, haben die Lernenden die Aufgaben jedoch anders interpretiert, nämlich in den Kategorien des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts (→ Kap. 19): Phase I mit dem Sammeln von Assoziationen zu der Zeichnung haben sie als Motivationsphase verstanden, Phase II mit dem Diktat als Hörverstehensübung, Phase III mit dem Fokus auf Denotationen und Konnotationen als Wortschatzarbeit und Phase IV mit der Diskussion der verschiedenen Übersetzungsvorschläge als Training für die Teamarbeit und für das Finden von Kompromissen. Kramsch/Huffmaster hatten jedoch als Lehr- und Lernziel verfolgt, den Studierenden Einblicke zu ermöglichen in die breite Semantik von sprachlichen Zeichen, die Aushandlungsprozesse nötig macht. So stellte sich bei der Übersetzung des Gedichts ins Amerikanische durchaus die Frage, welches der passendste Ausdruck für „Gipfel“ sei – „mountaintop“, „summit“ oder „peak“. Ihre Entscheidung haben die Studierenden nicht nur auf Basis der Semantik getroffen, sondern auch Klang und Länge der Ausdrücke, die in Frage kamen, berücksichtigt. So wurden sie dafür sensibilisiert, dass die Entscheidung für bestimmte sprachliche Mittel auch die Wirkung eines Textes verändert. Die Fähigkeit, die Wirkung sprachlicher Mittel reflektieren und abschätzen zu können, nennt Kramsch „symbolic competence“ bzw. „symbolische Kompetenz“ (→ Kap. 9, 10).
Wie sie auch in anderen Beiträgen ausführt, möchte sie die Lernenden sensibilisieren für „the full meaning making potential of language“