Having to choose which items to include and which to leave out, how to sequence them and weigh the information they contained, how to configure the patterns they formed across stanzas, how to choose a point of view through the use of demonstratives and pronouns – all these discourse processes transformed an exercise focused on the code and on the informational content into an exercise focused on the role of memory and the imagination. (Kramsch 2015: 131)
In der US-amerikanischen Fachdiskussion in den Fremdsprachenphilologien Deutsch und Französisch, in deren Kontext Claire Kramsch publiziert, wird für eine Erweiterung des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts, der vor allem auf Informationsaustausch in Alltagssituationen ausgerichtet ist, plädiert und es wird dafür argumentiert, den Fokus nicht allein auf „sentence grammar, structure drills, information retrieval“ zu legen, sondern auf „reflection on language and content and specifically on the connections between the details of texts and student’s personal responses to those texts“ (Kern 2003: 47).
Unterrichtsidee
Die sprachlichen Mittel im Hinblick auf ihre Wirkung zu berücksichtigen, ist auch ein Vorschlag, den Schiedermair anhand von verschiedenen Texten ausgearbeitet hat und der sich auch für das vorliegende Goethe-Gedicht nutzen lässt. Wenn man etwa den Ausdruck „du“ in dem Goethe-Gedicht nicht als Synekdoche für „Mensch“ nimmt, sondern als Personalpronomen versteht, gibt er eine Perspektive vor. Das Gedicht präsentiert sich dann nicht mehr als eine allgemeine Aussage von einer neutralen Position aus, sondern als Anrede an ein „du“, spricht Hörende und Lesende an oder fungiert als Selbstapostrophe. Das Gedicht wird zu einer Warnung, einer Drohung oder einem Versprechen. Verstärkt durch den Imperativ „Warte!“ wird der Modus einer direkten und eindringlichen Aufforderung gewählt. Berücksichtigt man in dieser Weise die sprachlichen Mittel des Gedichts, ist die Perspektive der Adressierung eines „du“ wohl eine Basis, auf die man sich bei der Lektüre des Gedichts einigen kann – die Semantik der Substantive und Verben andererseits lässt verschiedene Deutungen zu: „ruhen“ kann etwa verstanden werden als Ausruhen im Sinne eines motorischen Ruhens, psychisches oder emotionales Empfinden, Schlafen oder Tod (vgl. Matuschek o.J.: 4). Dies kann als ein offenes Angebot des Textes verstanden werden, das einen Einstieg in ein Unterrichtsgespräch bietet. Bei Übersetzungen ist es eine große Herausforderung, Formulierungen zu finden, bei denen solche Angebote erhalten bleiben.
Unterrichtsidee
Diese Reihe von Zugangsweisen zu dem Gedicht Wandrers Nachtlied im Kontext des sprachlichen Lernens möchten wir mit einem abschließenden Hinweis auf den Roman Die Vermessung der Welt (2018/2005) von Daniel Kehlmann illustrieren. An einer Stelle des Romans spielt Kehlmann mit dem Goethe-Gedicht, indem er es in mehrfacher Hinsicht verfremdet. Er ändert das Druckbild, schreibt Prosa, verwendet Ausdrücke im Konjunktiv, lässt den Imperativ weg und wählt Formulierungen, die die Semantik des Gedichts vereindeutigen. In der im Folgenden zitierten Passage wird Alexander von Humboldt von den Begleitern seiner Südamerika-Expedition aufgefordert, eine Geschichte zu erzählen:
(Kehlmann 2018: 128)
Hier ist die spezifische Zeilenaufteilung im Druckbild des Romans zu sehen. Man könnte diesen Ausschnitt den Lernenden vorlegen mit der einfachen Frage: Wo ist das Gedicht? Dann fällt auf, dass die für viele Gedichte übliche äußere Form von verkürzten Zeilen in diesem Fall zum Prosatext des Romans gehört. Das Gedicht dagegen findet sich in den Zeilen darüber, die wie Prosa wirken. Der Konjunktiv „sei“ und die Verallgemeinerung durch „man“ statt „du“ sowie die Vereindeutigung in „tot sein“ statt „ruhen“ erschweren es zusätzlich, Goethes Gedicht zu erkennen. Wenn man beide Versionen – Goethes Gedicht und Kehlmanns Romanpassage – vergleicht, wird deutlich, dass Kehlmann keinen einzigen sprachlichen Ausdruck aus dem Gedicht ohne Veränderung übernommen hat. Der Textvergleich verdeutlicht, wie die Form an der Bedeutungsbildung beteiligt ist. Kehlmanns Spiel mit der Goethe-Vorlage operiert auf verschiedenen Ebenen. Es nutzt die Wirkungsmöglichkeiten des Druckbilds sowie die Wirkungsmöglichkeiten einzelner sprachlicher Ausdrücke und diskutiert implizit die Frage, ob etwas als Gedicht erkannt werden kann, wenn es in diesen Punkten abweicht. Wenn auf der Erzählebene Alexander von Humboldt nicht darauf hinweisen würde, dass es ein Gedicht ist, wäre es dann ein Gedicht? Bezieht man die Erzählebene mit ein, ergibt sich außerdem die ebenfalls oben angesprochene Frage, ob eine Übersetzung die Wirkung eines literarischen Textes bzw. eines Gedichts verändert, trägt Humboldt es doch auf Spanisch vor.
Wie sprachliches Lernen mit literarischen Texten über den Erwerb von grammatischen Strukturen und Lexikon hinaus verstanden werden kann, wird auch in einigen Beispielen in Kap. 20 Kreative, performative und analytische Verfahren deutlich. In den dort vorgestellten Beiträgen von Suzan Radwan und Irina Samide werden Verfahren vorgeschlagen, die die sprachliche Form von Gedichten analysieren und deren Beitrag zu Bedeutungsbildungsprozessen reflektieren. Sprachliches Lernen kann man so als integriert in Lektüreprozesse verstehen – jenseits von einem Vorgehen, das die Arbeit mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht auf die Unterstützung von Spracherwerbsprozessen reduziert.
7 Landeskundliches Lernen
Neben dem sprachlichen Lernen (→ Kap. 6) wird auch das landeskundliche Lernen1 in der Fachdiskussion von Anfang an als genuine Zielsetzung der Lektüre von literarischen Texten im Unterricht Deutsch als Fremd- und Zweitsprache diskutiert. Wie beides gemeinsam gelingen kann, reflektiert schon Harald Weinrich (1985a) in seinem bekannten Aufsatz Von der Langeweile des Sprachunterrichts, der im vorigen Kapitel bereits genannt wurde und der in der fachwissenschaftlichen Diskussion bis heute immer wieder zitiert wird (siehe etwa Ehlich 2020: 213–219). Weinrich schreibt den „ästhetischen Verfahren der Literatur“ das Potenzial einer „sinnliche[n] Reflexivität [zu], durch die Interesse für die Sprache erzeugt, Interesse für die Sache jedoch nicht ausgeschlossen wird“ (Weinrich 1985a: 236f., Hervorh. d. Verf.). Wie im vorigen Kapitel schon ausgeführt, zeigt er am Beispiel des Gedichts empfindungswörter von Rudolf Otto Wiemer (1971: 21), wie die Auseinandersetzung mit dem grammatischen Paradigma der Interjektionen durch eine Perspektive der „deutschen Landeskunde“ ergänzt werden kann, indem man, „um das Gedicht minimal zu interpretieren, Jahreszahlen neben die Verse setzen“ könnte (Weinrich 1985a: 238). Wie der ebenfalls im vorigen Kapitel bereits vorgestellte und kommentierte Text Konjugation von Rudolf Steinmetz, so wird auch dieser Text der Konkreten Poesie in Textsammlungen und Lehr- und Lernmaterialien immer wieder aufgenommen und im Hinblick auf Einsatzmöglichkeiten im Unterricht kommentiert.
In dem Lehrwerk Deutsch aktiv Neu 1A (Neuner et al. 1996/1986: Lehrbuch, 1996/1987: Arbeitsbuch, 1994/1988: Lehrerhandreichungen), das sich an Erwachsene richtet, wird das Gedicht zunächst als Grundlage genommen, um die Wortart der Empfindungswörter bzw. Interjektionen einzuführen und in den dazugehörigen Handreichungen wird entsprechend betont, dass deren „Gebrauch von der subjektiven Einstellung des jeweiligen Sprechers abhängt“ (Neuner et al. 1994: 95), was anhand von drei verschiedenen Versionen, die als Hördokumente verfügbar sind – damals noch auf Kassette – deutlich werden soll. Die Arbeit mit diesem Gedicht unter landeskundlichen Aspekten unterstützt das Lehrbuch durch acht Fotografien, die auf einer Lehrbuchseite das Gedicht umgeben (Neuner et al. 1996: 56); sie werden im Lehrer*innenhandbuch beschrieben:
Bild 1:
ein Offiziersehepaar aus der Kaiserzeit (vor dem ersten Weltkrieg)
Bild 2:
Der Mercedesstern
Bild 3:
Boris