In kognitionswissenschaftlicher Perspektive bestehen zwischen dem Sprechen und dem Schreiben gewisse Ähnlichkeiten. Anders als das in der Regel beim Schreiben der Fall ist, findet das freie mündliche Sprechen jedoch unter Zeitdruck statt. Es ist kein zyklischer Prozess, der Raum für längere und wiederkehrende Phasen des Planens, Verfassens und Überarbeitens eines Textes vor dessen Präsentation bietet.
In der Arbeit mit literarischen Texten kann man eine Verlangsamung und ein wiederholtes ‚Üben‘ des Sprechens erreichen. Zu unterscheiden sind das Sprechen von literarischen Texten und das Sprechen über literarische Texte. Beide gehen in der Regel jedoch Hand in Hand. Das Sprechen von literarischen Texten wird auch unter dem Begriff der Ästhetischen Kommunikation gefasst. Mit ihm wird das Textsprechen in einem dialogischen Modell, d.h. das Senden und Empfangen des gesprochenen Textes als kommunikativer Prozess aufgefasst, in dessen Verlauf auf beiden Seiten eine Vielstimmigkeit entsteht (vgl. Brunner 2006: 91). Eine solche Auffassung liegt auch dem künstlerischen Erzählen zugrunde (vgl. Roshan 2020: 43ff.).
Die sprecherische Gestaltung von Texten enthält immer performative Elemente. Sie lässt viele Freiräume, ist stets subjektiv und ‚weiß‘ im besten Falle um die vielfältigen Möglichkeiten der Bedeutung und Wahrnehmung von Texten. Geprägt wird die Textgestaltung (oder Performance, von der z. B. beim Poetry Slam die Rede ist) von hörbaren und sichtbaren Komponenten. Die hörbaren Komponenten sind u.a. Aussprache, Stimmqualität, Sprechtempo, Rhythmus, Pausen und Intonation; die sichtbaren Komponenten sind u.a. Haltung, Gestik, Mimik und Blickkontakt (vgl. Brunner 2006: 92f.). Individuell gestaltet werden können lyrische Texte, auch Slam Poetry, kleine Textformen wie Anekdoten oder Fabeln, Kurzgeschichten sowie Auszüge aus erzählenden oder dramatischen Texten. Diese enthalten oft Figurenmonologe oder bieten Gelegenheit, solche in Anlehnung an die Textvorlage zu schreiben und anschließend zu performen.
Für die sprecherische Gestaltung von Texten im Unterricht werden folgende Empfehlungen gegeben (wobei die letzten drei Punkte auch für das Schreiben und die Präsentation geschriebener bzw. audiovisueller Texte gelten):
professionelle ‚Muster‘sprechfassungen von Schauspieler*innen, Autor*innen (etwa auf lyrikline.org oder zehnseiten.de) oder Erzähler*innen einsetzen (weniger von Lehrkräften) (→ Kap. 18),
lautes Ein- und Erlesen der Texte durch die Lernenden fördern,
jede Fassung würdigen,
den Prozess, nicht das Produkt in den Vordergrund stellen,
Feedbackregeln möglichst gemeinsam festlegen und beachten (Brunner 2006: 95).
Unterrichtsidee
Ein Unterrichtvorschlag wäre z. B. die sprecherische Gestaltung des Gedichts Ein Gleiches, auch als Wanderers Nachtlied bekannt, von Johann Wolfgang von Goethe.5 Es wird zunächst mit der Aufgabe ausgegeben, es sich selbst einmal laut vorzulesen. Im nächsten Schritt können einzelne Lernende Zettel ziehen, auf denen jeweils eine bestimmte Sprechhaltung vermerkt ist: Märchenerzähler*in, Trauerredner*in, Sportreporter*in, Pfarrer*in, Nachrichtensprecher*in, Politiker*in u. ä. Sie setzen ihre ‚Regieanweisung‘ vor der Gruppe um, und die Gruppe errät bzw. ermittelt die jeweilige ‚Rolle‘. Es entstehen verschiedene Deutungen und auch Wahrnehmungen des Textes, über die sich die Gruppe im Anschluss austauschen kann (vgl. ebd.: 95f.).
Die letztgenannte Phase ist bereits ein Sprechen über den Text. Es gehört in den Bereich der in der Fremdsprachendidaktik wie auch in der Fachdidaktik Deutsch oft so bezeichneten Anschlusskommunikation. In ihr sind die Fertigkeiten des Sprechens und des (Zu-)Hörens ebenso aufgehoben wie soziale Komponenten des Aushandelns von Bedeutungen und des Tolerierens von divergierenden Wahrnehmungen oder Meinungen. In Lektüregesprächen (→ Kap. 8) als einer Form der Anschlusskommunikation etwa muss man zuhören, vergleichen, andere Meinungen und Lösungsvorschläge respektieren und die eigene Meinung anhand des Textes begründen und verteidigen (vgl. Burwitz-Melzer 2006: 110). So können auch ausgewogene Beziehungen zwischen den Lernenden und eine tragfähige Gesprächskultur entstehen (vgl. Burwitz-Melzer 2007a: 224).
Das Sprechen über literarische Texte kann besonders anregend sein, da Lernende bestenfalls ‚involviert‘ sind, aus einem emotionalen Bedürfnis und Interesse heraus zu bedeutungsvollen und sie interessierenden Themen bzw. Problemlagen sprechen. Die (sprecherisch gestaltete) Textvorlage kann dabei besonders zum Austausch motivieren. Sie kann die Lernenden durch ein Lektüregespräch leiten und ihnen sprachliche Unterstützung etwa durch das Bereitstellen von (gesprochenen) Phrasen oder Chunks bieten, die sie auch in außerunterrichtlichen Kommunikationssituationen nutzen können (vgl. auch Elis 2015: 95).
Mit Blick auf junge Sprecher*innen von Fremd- und Zweitsprachen, etwa in der Primarstufe, kann anhand erster empirischer Studien festgehalten werden, dass sie in der Arbeit mit literarischen Texten zunächst Erfolge im Hören und Sprechen, erst später im Lesen und Schreiben erzielen (vgl. Burwitz-Melzer 2007a: 220). Angestrebt werden sollten allmähliche Übergänge vom Zuhören zum Selbstlesen sowie vom Nachsprechen ausgewählter Textteile und Formulieren erster Meinungen zu Texten hin zum Erzählen selbst erfundener Texte und zu ersten kurzen Lektüregesprächen (vgl. ebd.).
Überlegungen zur Förderung der Motivation zum Sprechen waren es, die Inge C. Schwerdtfeger – bereits 1989, als Filme noch nicht so leicht zugänglich waren wie heute – für den Einbezug von Filmen in den Unterricht Deutsch als Fremdsprache plädieren ließen. Das Sprechen über Filme sollte Lernende unterstützen, ihre „Redescheu“ und ihre „Langeweile“ im üblicherweise lehrbuchgeprägten Sprachunterricht zu überwinden (vgl. Schwerdtfeger 1989: 19). Schwerdtfeger etablierte das Sehen als bislang ‚übersehene‘ fünfte Fertigkeit im Fremdsprachenunterricht (vgl. ebd.: 24).
Zu unterscheiden sind das Sehen von unbewegten Bildern (Fotografien, Zeichnungen, Gemälde) und bewegten Bildern (Filme, Videos), auch als ‚Bilder-Lesen‘ und ‚Film-Lesen‘ bezeichnet. Unbewegte Bilder werden mit ungeteilter Aufmerksamkeit als Ganzes wahrgenommen; die Wahrnehmung kann ausgedehnt und wiederholt werden. Die Schulung des ‚Bilder-Lesens‘ gilt Fragen von Ikonografie und Symbolik wie:
Wofür steht eine Fotografie von Menschen auf der Berliner Mauer im November 1989?
Was symbolisieren hochgereckte Arme von Menschen?
Was symbolisieren bestimmte Farben wie schwarz oder rot?
Wie wirken die Bilder auf uns – was empfinden wir als schön oder hässlich und warum ist dies so?
Bewegte Bilder hingegen sind flüchtig. Sie müssen schnell, mit geteilter Aufmerksamkeit und in der Regel über verschiedene Kanäle (Sehen und Hören/Augen und Ohren) wahrgenommen werden. Insofern sprechen wir auch vom Hör-Sehen bzw. Hör-Seh-Verstehen (vgl. ebd.: 143) und auch hier von den oben genannten verschiedenen Stilen (des Hörens) wie global, selektiv und detailliert. Das Hör-Sehen ist ein bild- und zeichengestütztes Hören, das nicht nur im Kontext des Film-Sehens bzw. ‚Film-Lesens‘ von Bedeutung ist, sondern auch in der alltäglichen Kommunikation. Denn das Hören ist häufig visuell unterstützt – durch Symbole und Piktogramme, durch non-verbale Zeichen wie Gestik und Mimik von Kommunikationspartner*innen (vgl. ebd.: 60) und durch die bildlich-räumliche