In Einführungen in die Fremdsprachendidaktik werden die Anteile von geschriebener und gesprochener Sprache in der Alltagskommunikation etwa mit 5 % und 95 % angegeben oder – verteilt auf die vier ‚wichtigsten‘ Fertigkeiten – mit 45 % Hören, 30 % Sprechen, 16 % Lesen und 9 % Schreiben (vgl. Decke-Cornill/Küster 2015: 179). Mit der wachsenden Bedeutung der digitalen Medien im Alltag verschiebt sich das Verhältnis zugunsten des Lesens, Schreibens und auch Sehens im Sinne des Dekodierens von Symbolen und Bildern. Dennoch bleibt gerade das Hören eine wichtige Fertigkeit in der Fremd- und Zweitsprache, die im Unterricht jedoch oft zu kurz kommt. Es findet grundsätzlich in zwei situativen Kontexten statt: in der interpersonalen Begegnung und in der medialen Rezeption (vgl. Decke-Cornill/Küster 2015: 179). In der Arbeit mit literarischen Texten sind beide Kontexte relevant und können einen Rahmen bilden.
Kognitionswissenschaftlich wird die Fertigkeit Hören in der Nähe der Fertigkeit Lesen gesehen, da die Prozesse des Leseverstehens und des Hörverstehens sehr ähnlich sind. Auch das Hören umfasst das Erkennen von Wörtern oder Sätzen und die Bedeutungskonstruktion auf der Ebene von (längeren) Äußerungen oder Texten. Bottom-up- und top-down-Prozesse (→ Kap. 4) greifen auch beim Hören ineinander. Die Hörer*innen sind, wie die Leser*innen, Ko-Produzent*innen von Texten, jedoch unter spezifischen auditiven Bedingungen. Diese sind durch Flüchtigkeit, durch den – bis auf einzelne Pausen oder Momente der Stille – kontinuierlichen Lautstrom und das vorgegebene Tempo des zu Hörenden charakterisiert (vgl. Müller 2004: 7). Hörer*innen können kaum bei Problemen im Text zurückgehen, Textteile überspringen und das Dekodiertempo selbst bestimmen (vgl. Lutjeharms 2016: 98). Anders als der Leseprozess kann der Hörprozess nicht verlangsamt oder durch Zurückblättern und wiederholtes Lesen individuell gestaltet werden. Insofern können Lernende – wenn sie etwa den Lautstrom nicht ‚schnell genug‘ segmentieren und lexikalische Einheiten erfassen können – rasch ‚den Faden verlieren‘ und den Eindruck gewinnen, sie könnten von einem Hörtext ‚gar nichts‘ verstehen. Ein regelmäßiges Hörtraining oder auch eine Hörerziehung (vgl. Wermke 1995) ist hier von Wichtigkeit. Im Kontext der medialen Rezeption von Texten können Lernende es trainieren,
aus Hintergrundgeräuschen (z. B. Bahnhof, Restaurant) auf die Kommunikationssituation zu schließen;
Stimmen und damit Personen/Figuren zu unterscheiden;
aus Stimmen Rückschlüsse auf Alter und Geschlecht von Personen/Figuren zu konstruieren;
prosodische Elemente wie Intonation und Rhythmus sowie die emotionale Färbung einer Stimme, Stimmhöhe, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit zu interpretieren und daraus Rückschlüsse auf das Gesprochene zu ziehen (vgl. Lütge 2017: 128).
Dafür muss das Hören im Unterricht – wie auch das Lesen eines Textes oder das (Hör-)Sehen eines Films – in Phasen erfolgen, die verschiedene Möglichkeiten der Begegnung mit einem Text oder verschiedenen Texten (→ Kap. 18) bieten. Die Hördauer muss angemessen gewählt und auch wiederholtes Hören möglich sein. Dies ist zwar – anders als beim Lesen, bei dem man individuell etwa rasch zurückblättern oder die Augen noch einmal auf den oberen Teil der Seite lenken kann – mit technischem Aufwand verbunden, er ist jedoch nicht zu groß. Auch die Anwendung von (metakognitiven) Strategien, welche die bewusste Gestaltung von Hörprozessen unterstützen, müssen die Lernenden trainieren.
Unterrichtsidee
Wie eine solche Phase des Trainings von Hörprozessen mit literarischen Texten aussehen kann, zeigen Kramsch/Huffmaster (2008) am Beispiel von Goethes Gedicht Wandrers Nachtlied.2 In dem von ihnen skizzierten Unterrichtssetting wurde es den Lernenden zunächst nur mündlich präsentiert. Der Dozent las das Gedicht mehrere Male vor, während die Lernenden versuchen sollten, es aufzuschreiben. Kramsch/Huffmaster zeigen, wie eine solche Aktivität nicht nur als Hörverstehensübung verstanden werden kann – wie von den Lernenden in der geschilderten Unterrichtssituation eingeschätzt –, sondern darüber hinaus als erster Einstieg in einen komplexen Text dienen kann, der sich zunächst als überschaubar präsentiert, im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung jedoch als vieldeutig und in seiner Bedeutungsbildung offen erweist.
Die ästhetische Dimension des Hörens wird in didaktischen Diskussionen zunehmend hervorgehoben.3 Es war zunächst Jutta Wermke in der Fachdidaktik Deutsch, die ein Konzept zur Hörerziehung als Wahrnehmungsschulung, die sie als Teil einer ästhetischen Bildung versteht, entwickelte. Das Hören wird in dem Konzept „als Hören auf den Klang der Welt und nicht als nachgeordnete Funktion in Kommunikationsprozessen“ (Wermke 1995: 18) aufgefasst. Die Lernenden sollen zum Hören, Horchen und Lauschen als Formen auditiver Wahrnehmung bzw. Aufmerksamkeit angeregt werden, wobei gerade das Horchen und Lauschen außerhalb von Kommunikationssituationen situiert sind (vgl. Wermke 1995: 21 und 2013: 184). Die einzelnen Tätigkeiten unterscheiden sich insofern als das Hören eine „aktive […] selektive und sinnkonstituierende Wahrnehmungsleistung [ist]. Unwichtiges wird ausgeblendet“ (Wermke 2013: 183), um beispielsweise an einem Gespräch teilnehmen zu können. Das Horchen ist „ein kurzfristig aktualisiertes, konzentriertes und forciertes Hören“ (ebd.: 184), etwa auf ein leises Geräusch oder ein Gespräch hinter einer Tür. Das Lauschen ist ebenfalls „ein hochkonzentriertes, aber zugleich selbstvergessenes Hören, das sich entspannt den Eindrücken hingibt“ (ebd.: 185), etwa beim Genuss von instrumentaler Musik.
Literarische Texte forcieren die auditive Wahrnehmung in verschiedenen Formen, auch beim Hören ein und desselben Textes. So kann ein Hörspiel bzw. der erste Teil eines Hörspiels (zunächst) global gehört werden mit dem Ziel, Thema, Zeit, Raum und Handlung sowie zentrale Figuren bzw. Figurenkonstellationen zu erkennen. Beim detaillierten (nochmaligen) Hören des Hörspiels bzw. weiterer seiner Teile kann die Aufmerksamkeit auf Geräusche und leise, vielleicht heimliche Gespräche oder auf die Musik und ihre möglichen Funktionen wie Wirkungen gelenkt werden. Es kann gehorcht und gelauscht werden. So werden Vorstellungskraft und Phantasie der Lernenden angeregt, denn wie auch beim Lesen entstehen Bilder in den Köpfen. Die Lernenden sind im besten Fall emotional beteiligt, was die Motivation zum Hören steigern kann.
Unterrichtsidee
Wie ein solches Hören mit Hörspielen im Unterricht erfolgen kann, führt Ingvild Folkvord in ihrem Beitrag Gehörte Geschichten im Literaturunterricht (2011) aus. Sie zeigt exemplarisch, wie sie mit Germanistikstudierenden in Norwegen mit dem kurzen Hörspiel Die Verabredung (Zeiner/Betz 2006) arbeitet, das nur zehn Minuten dauert und montageartig kurze Telefongespräche, den inneren Monolog der Protagonistin Angelika und kürzere Musik-Sequenzen zusammensetzt. Die Protagonistin hat Michael kennengelernt und nach einigen Telefonaten zum Essen eingeladen. Nun ist sie unsicher, ob er kommt. Folkvord (2011: 119) führt dazu aus: „[B]eim Hören dieses Hörspiels versteht man eben auch über Prosodie, Tonfall, Pausen und einfache Klangrequisiten wie Tastendruck- und Klingelgeräusche. Hier geht es nicht darum, isolierte sprachliche Strukturen zu erfassen. Vielmehr ist die Fremdsprache eingebettet in einen Handlungszusammenhang.“
Neben dem Hören, Horchen und Lauschen kann auch das Zuhören, „ein aufmerksames konzentriertes Hören auf die Äußerungen eines anderen“ und damit innerhalb von Kommunikationssituationen verortet (vgl. Wermke 2013: 185), anhand literarischer Texte geschult werden. In der Kommunikation über Texte, im Austausch über deren mögliche (Be-)Deutungen und Wirkungen spielt es eine Rolle. Auch beim (künstlerischen) Erzählen im Deutsch als Fremd- und Zweitsprachunterricht (→ Kap. 12, 20) kommt dem Zuhören, auch als eine soziale Fähigkeit aufgefasst, eine starke Bedeutung zu. Es wird von den Erzähler*innen explizit als eine bei den Zuhörer*innen, die auch selbst im Unterricht zu Erzähler*innen werden, zu fördernde Fertigkeit reflektiert und gefördert (vgl. Wardetzky 2010: 45).4 Im Anschluss an Wardetzky hat Narges Roshan (2020) kürzlich einen Vorschlag zum (künstlerischen) Erzählen von Märchen im Kontext von Deutsch als Zweitsprache dargestellt (→ Kap. 12).
Alle (Zu-)Hörer*innen sind auch selbst Sprecher*innen – sei es beim Präsentieren von (eigenen) Texten oder im differenzierten Austausch über Höreindrücke (vgl. Wermke 2013: 186f.).
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