Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Almut Hille. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Almut Hille
Издательство: Bookwire
Серия: narr Studienbücher LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFT
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823302193
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Wahrnehmung [vermittelt uns] ein anderes Raumgefühl als die visuelle: Der Raum, den wir hören, umgibt uns; der Raum, den wir sehen, ist uns gegenüber.“ (Wermke 1995: 20)

      Die Förderung einer visual literacy bzw. audiovisual literacy (→ Kap. 11) umfasst die Sensibilisierung für vielfältige Kontexte und Bedingungen des Hörens und Sehens bzw. Hör-Sehens. Sie finden auch im Konzept einer multiliteracy (→ Kap. 11) Berücksichtigung.6

      Die genannten Fertigkeiten gelten als Ziel wie als Mittel des Fremdsprachenunterrichts (vgl. Faistauer 2001: 869). Entsprechend wird ihre Förderung als Mittel und als Effekt auch des literarisch-ästhetischen Lernens betrachtet (vgl. etwa Kräling/Martín Fraile/Caspari 2015: 96, Šlibar 2011: 57). Die handlungsorientierten sprachdidaktischen Lernziele, die Förderung der Fertigkeiten, überschneiden sich mit (Teil-)Zielsetzungen einer multiliteracy und eines fremdsprachlichen literarisch-ästhetischen Lernens (vgl. Burwitz-Melzer 2007a: 222).

      Die Förderung der verschiedenen Fertigkeiten bzw. einer multiliteracy in medialen Kontexten des Fremdsprachenunterrichts ist in den letzten Jahren nicht nur von Printmedien, auditiven und audiovisuellen Medien, sondern zunehmend von digitalen Medien (→ Kap. 11) geprägt. Dies führt zu einer wachsenden Bedeutung des Lesens und Schreibens, aber auch des Hör-Sehens.

      Die ‚alten‘ Kulturtechniken des Lesens und Schreibens sind damit weiterhin unabdingbare Voraussetzungen für die Teilhabe an Diskursen, an Wissen und Kommunikation, am gesellschaftlichen und beruflichen Leben sowie für die persönliche Entwicklung. Sie sind in den ‚neuen‘ Kulturtechniken des digitalen Kommunizierens, Lernens, Arbeitens, Sich-Unterhaltens und Sich-selbst-Ausdrückens aufgehoben. Für den Umgang mit Abruf- und Kommunikationsmedien wie Computer und Internet (→ Kap. 11) sind sie zentral, allerdings unter neuen Vorzeichen. Gelesen wird nicht nur im Buch oder in der Zeitschrift, sondern auch am Tablet, E-Book-Reader oder Smartphone; neben das Schreiben mit der Hand tritt das Tippen auf einer Tastatur (vgl. auch Beste/Plien/Anselm 2018: 219). Das persönliche Gespräch kann durch den Austausch von Sprachnachrichten ersetzt werden (vgl. ebd.); Audio-Podcasts forcieren eine Renaissance des Hörens; Video-Podcasts, Games und Serien eine Verstärkung des Sehens bzw. Hör-Sehens. Das Internet ist zu einem Informations-, Kommunikations-, Produktions- und Publikationsmedium geworden, das auch aus dem Fremdsprachenunterricht kaum noch wegzudenken ist (vgl. auch Rösler/Würffel 2017: 129).

      Im Internet publizierte Texte sind häufig multikodal verfasst und werden multimodal rezipiert, also in Schrift-, Bild-/Symbol-/Grafik- und Tonkombinationen (vgl. auch Kepser 2018: 259). Sie sprechen verschiedene Wahrnehmungs- bzw. Erkenntnisdimensionen an: „das Lesen von Texten, das Sehen von Bildern, das Hören von auditiven Texten, das Hören, Sehen und Lesen von audiovisuellen Filmtexten etc.“ (Frederking/Kromer/Maiwald 2018: 241). Die Mehrfachkodierung digitaler Texte sowie die Aktivierung verschiedener Wahrnehmungskanäle in Prozessen ihrer Rezeption werden auch als Synästhetik bezeichnet (vgl. ebd.: 239). Das Einhergehen der Rezeption digitaler Texte mit ihrer möglichen Modifikation oder Neugestaltung, also eigener Produktion, ist im Begriff der Interaktivität aufgehoben (→ Kap. 11). Zu den grundlegenden Veränderungen, besonders von Lese- und Schreibprozessen, gehören somit ihr (neuer) synästhetischer und interaktiver Charakter (vgl. ebd.: 238) sowie ihre Gebundenheit an Bildschirme.

      Betrachtet man das digitale Lesen mit Blick auf literarische Texte näher, ist zunächst zwischen dem Lesen digitalisierter Literatur und digitaler Literatur (→ Kap. 1) zu unterscheiden. Digitalisierte Literatur steht in kostenpflichtigen Exemplaren (z. B. E-Books) oder zum kostenlosen Herunterladen von Plattformen wie z. B. Deutsches Textarchiv und Projekt Gutenberg zur Verfügung. Als Vorteile der digitalisierten Literatur benennt Ruth Klüger in ihrem Aufsatz Anders lesen (2016) deren am Lesegerät flexibel handhabbares Schriftbild (Schriftgröße, -type und -stärke sowie der Zeilenabstand sind veränderbar), das geringe Gewicht und die einfache Transportmöglichkeit des Lesegeräts sowie die so ermöglichte Ortsungebundenheit des Lesens, verbunden mit der steten Verfügbarkeit einer Vielzahl von Texten (vgl. Klüger 2016: 82f.). Hinzu kommen am Lesegerät Funktionen wie beispielsweise das Markieren im Text, das Erstellen von Notizen und das Konvertieren von Daten (vgl. Radvan 2016: 73). Einige digitale Editionen stellen über Hyperlinks (→ Kap. 11) auch Paratexte wie Wort- und Sacherläuterungen, Wörterbücher und Nachschlagewerke oder Autor*inneninformationen zur Verfügung. Diese Funktionen und Angebote verändern Leseprozesse – und das nicht nur zum Vorteil. Empirische Studien zeigen, dass gedruckte Texte in größeren Ausschnitten wahrgenommen und dreidimensional in einem Buch oder einer Zeitschrift verortet werden; dieser Überblick fehlt bei digitalisiert zur Verfügung stehenden bzw. digitalen Texten, „welche sich zwar an Seiten orientieren, aber durch ihre Zoombarkeit und Zweidimensionalität Orientierungsmerkmale für ein globales Verständnis ausblenden“ (Wampfler 2017a: 64).

      Als Grundlagen des digitalen Lesens im Unterricht gelten:

      Methoden zur Lesestrukturierung digitalisiert zur Verfügung stehender bzw. digitaler Texte kennen und anwenden lernen,

      aktiv zwischen analogem und digitalem Arbeiten switchen, da so Metakognition gefördert wird,

      Aufmerksamkeitskontrolle einüben und Ablenkungen bewusst wahrnehmen,

      Angebote des scaffoldings (des Bereitstellens von Orientierungshilfen und Denkanstößen durch die Lehrkraft) nutzen,

      eigene Ziele beim Lesen setzen und deren Erreichen überprüfen (vgl. ebd.: 65).

      Lernende müssen (neue) Lesestile und -strategien wie z. B. Hypertext-Strategien entwickeln und ihre Leseprozesse möglichst genau reflektieren, auch in der Arbeit mit digitalen literarischen Texten. In diesen sind Interaktivität und Nichtlinearität bzw. Hypertextualität von vornherein als Textprinzipien angelegt. Die Textstrukturen sind gegenüber analog verfassten und gedruckten Texten verändert, was besonders bei der sogenannten Netzliteratur deutlich wird (→ Kap. 1, 11). Sie fordert nicht-lineare Lektüren und legt unterschiedliche Pfade der Lektüren wie Bedeutungskonstruktionen nahe. Sie wird häufig in interaktiven Tools publiziert, die als Schreibforen, Mitschreibeprojekte oder literarische Blogs konzipiert sind und die Leser*innen zur Mitwirkung anregen. Sogenannte Blogromane wie z. B. Wrangelstraße. Ein Blogroman aus Berlin Kreuzberg von Sebastian Kraus sind seriell angelegt und können von den Leser*innen mitgestaltet werden.

      Die Lektüren digitaler Texte im Unterricht können je nach Unterrichtsphase individuell und gemeinschaftlich erfolgen. Adaptiert werden können Praktiken des social reading – ein Begriff, in dem das öffentliche Lesen, Bewerten, Kommentieren und Diskutieren von Texten im Internet gefasst wird (vgl. Pleimling 2012: 1). Das Bewerten und Kommentieren findet in deutscher Sprache auf Plattformen wie z. B. LovelyBooks statt. Für den Unterricht ist es aber oft günstiger, (zunächst) nur lerngruppenintern zugängliche Plattformen oder Foren zu nutzen. Auf ihnen kann auch das Lesen als solches öffentlich werden: Markierungen, Anmerkungen und Notizen von (individuell) Lesenden werden in der Lerngruppe sichtbar und können kommentiert werden. Auf diese Weise verschmelzen (individuelle) Lesevorgänge und Diskussionen über Texte miteinander. Ebenso verschmelzen das Lesen und das Schreiben: Durch das Schreiben und Veröffentlichen etwa von Anmerkungen und Kommentaren entsteht ein zum jeweiligen Text gehörender und diesen erweiternder Text-Content als kollaboratives Produkt (vgl. Brendel-Perpina 2016: 159). Man spricht insofern auch von „Lese-Schreib-Prozessen“ (vgl. Abraham 2016: 275).

      Das digitale Schreiben unterscheidet sich in kognitionswissenschaftlicher Perspektive wesentlich vom handschriftlichen Schreiben. Es ist kein grafomotorischer Prozess, bei dem Buchstaben mit Hilfe eines Schreibgeräts auf einer physischen Oberfläche wie z. B. Papier fixiert werden, sondern ein Auswahlprozess, bei dem Buchstaben am Computer auf einer Tastatur oder einem Display ausgewählt und durch Tippen (vorläufig) auf dem Bildschirm fixiert werden (vgl. Krelle 2016: 51). Die entstehenden Wörter, Sätze und Texte können durch Textverarbeitungsprogramme permanent korrigiert, revidiert und umgestellt werden, wobei auch mit – nicht unproblematischen – Autokorrekturangeboten der Programme (Rechtschreibkorrektur, Syntaxprüfung, Wortvervollständigung) sinnvoll umzugehen ist.

      Digitales Schreiben ist immaterielles