Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Almut Hille. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Almut Hille
Издательство: Bookwire
Серия: narr Studienbücher LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFT
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823302193
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Zeichen und Wörtern sowie die Bedeutungskonstruktion durch die Lesenden – unterschiedlich gewichtet werden. Außer Frage steht inzwischen jedoch, dass beide in interaktiven Wechselwirkungen zueinander stehen und in der Bedeutungskonstruktion durch die Lesenden Beziehungen zwischen Textsignalen, neuen Informationen und bereits vorhandenem Wissen hergestellt werden.3

      Der Leseprozess verläuft auf drei Ebenen, die nicht vollständig voneinander zu trennen sind. Während auf der Wortebene die Phonem-Grafem-Zuordnung und die Worterkennung erfolgen, werden auf der Satzebene sogenannte Propositionen, d.h. kleinere semantische Einheiten analysiert; es kommt zu lokalen Kohärenzbildungen. Auf der Textebene erfolgen globale Kohärenzbildungen; unter Rückgriff auf Textartenkenntnisse können Makrostrukturen gebildet und auch Darstellungsstrategien und mögliche Textintentionen erkannt werden.

      In der kognitionspsychologisch orientierten Leseforschung werden im Anschluss an grundlegende Studien seit den 1970er Jahren hierarchie-niedrige bzw. hierarchie-höhere Teilprozesse des Lesens unterschieden. Als hierarchie-niedrig gelten Prozesse wie die Worterkennung sowie die syntaktische und semantische Analyse von Wortfolgen; als hierarchie-höher gelten Prozesse wie die satzübergreifende Analyse von Textstrukturen und die Herstellung globaler Kohärenz unter Rückgriff auf bereits vorhandenes Weltwissen. Den PISA-Tests und dem in ihnen modellierten Begriff von Lesekompetenz liegt die Unterscheidung von textimmanenten und wissensbasierten Verstehensleistungen zugrunde (Hurrelmann 2007: 23).

      Fasst man das Lesen nicht vorrangig kognitionstheoretisch, sondern in der weiteren kulturwissenschaftlichen und bildungstheoretischen Perspektive etwa der Lesesozialisationsforschung als „konstruktiven Akt der Bedeutungszuweisung zu einem Text“ (Hurrelmann 2007: 24) auf, wird deutlich, dass neben den genannten Prozessen auch motivational-emotionale und kommunikativ-interaktive Dimensionen zu berücksichtigen sind. Die motivational-emotionale Dimension umfasst die Mobilisierung positiver Erwartungen gegenüber dem Lesen an sich oder den ausgewählten Texten, die erfolgreiche Überwindung von Schwierigkeiten beim Lesen, das Involviertsein beim Lesen (Neugier, Spannung, Genuss) und die Ausbalancierung der entstehenden Gefühle. In der kommunikativ-interaktiven Dimension ist der Austausch mit anderen über das Gelesene, oft auch als Anschlusskommunikation bezeichnet, aufgehoben (Hurrelmann 2007: 24). Motivierend können hier Lektüregespräche sein, die alle Beteiligten als gleichwertige Gesprächsteilnehmer*innen verstehen, wie es etwa im Heidelberger Modell des literarischen Unterrichtsgesprächs vorgesehen ist (vgl. dazu Steinbrenner et al. 2014, Mayer 2017, Heizmann 2018).

      Die Lesesozialisation (in der Familie, im Freundeskreis, in Schule, Ausbildung und Studium) ist natürlich auch ein Aspekt, der das Lesen beeinflusst. Zur fremd- und zweitsprachlichen Lesesozialisation liegen bislang kaum Forschungsergebnisse vor. Angenommen wird jedoch, dass die muttersprachliche Lesesozialisation auch Einfluss auf das fremd- und zweitsprachliche Lesen hat: Einstellungen zum Lesen, Erfahrungen und Wertschätzungen werden übernommen (Biebricher 2008: 14).

      Was unterscheidet das Lesen in der L2 vom Lesen in der L1?

      Prozesse wie die Worterkennung und die syntaktische wie semantische Analyse von Wortfolgen verlaufen bei kompetenten Leser*innen in der L1 weitgehend automatisiert. Sie erreichen so eine hohe Lesegeschwindigkeit, auch „Leseflüssigkeit“ genannt. Prozesse wie die satzübergreifende Analyse von Textstrukturen und die Herstellung globaler Kohärenz verlaufen weniger automatisiert. Auch kompetente Leser*innen (in der L1) stehen hier vor immer neuen Herausforderungen, bedingt etwa durch die Komplexität eines Textes, durch semantische Leerstellen oder Textinformationen, die kaum mit dem vorhandenen Weltwissen verknüpft werden können.

      Beim Lesen in der L2 sind bereits Prozesse wie die Worterkennung und die syntaktische wie semantische Analyse von Wortfolgen als weitgehend nicht automatisiert zu betrachten. Grafologische Zeichen und Wörter müssen, besonders von weniger kompetenten Leser*innen, mitunter mühsam entziffert werden. Sie lesen Wort für Wort. Die syntaktische Analyse von Wortfolgen, auch eine Voraussetzung für semantische Analysen, kann etwa durch wenig ausgeprägte Kenntnisse der Syntax und des Kasussystems in der L2 Deutsch erschwert sein. Semantische Analysen können Schwierigkeiten bereiten, wenn etwa Wörter nicht in ihren verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten bekannt sind und auch der Kontext nicht für die (korrekte) Erschließung der Bedeutung eines Wortes oder einer Wortfolge genutzt werden kann. Das Erkennen des Kontextes stützt sich auf das verfügbare Weltwissen der Lesenden. Es muss aktiviert und in der Bedeutungskonstruktion auf der Satz- und Textebene mit Textsignalen und (neuen) Informationen aus dem Text verknüpft werden. Beim Lesen in der L2 steckt darin die möglicherweise besondere Herausforderung, bislang erworbenes eigenes Wissen, das – wie in der L1 – auch vom sozio-kulturellen Hintergrund der einzelnen Leser*innen abhängig ist, in Frage zu stellen, zu modifizieren und zu ergänzen. Es müssen neue Zusammenhänge abgeleitet und neue, unbekannte, vielleicht fremd erscheinende Gegenstände in ihren möglichen Bedeutungen erschlossen werden (vgl. zusammenfassend zum Lesen in der L2 Ehlers 1998: 179–186).

      Unbestritten ist: Auch kompetentere Leser*innen lesen in der L2 langsamer als in der L1. Auffälligstes Merkmal des Lesens in der L2 ist eine geringere Lesegeschwindigkeit. Empirische Studien zeigen insgesamt eine um ca. 30 % verringerte Lesegeschwindigkeit (Ehlers 1998: 167).4

      Eine Grundannahme der fremd- und zweitsprachlichen Leseforschung ist, dass neben der allgemeinen sprachlichen Kompetenz in der L2 und der Verfügbarkeit von (angemessenem) Weltwissen auch die Lesefertigkeit in der L1 einen Einfluss auf die Lesekompetenz in der L2 besitzt. Intensiv wird die Frage diskutiert und in empirischen Studien zu gewichten versucht, welche der Variablen – die allgemeine sprachliche Kompetenz in der L2 oder die Lesefertigkeit in der L1 – größeren Einfluss auf die Lesekompetenz in der Fremd- bzw. Zweitsprache hat. Unterschieden werden die sogenannte Schwellenhypothese und die Interdependenzhypothese (vgl. etwa Ehlers 1998: 111–117).

      Die Schwellenhypothese geht davon aus, dass eine bestimmte Schwelle an fremd- bzw. zweitsprachlicher Kompetenz erreicht oder überschritten sein muss, um in der L1 ausgeprägte Lesefertigkeiten und möglicherweise -strategien auf die L2 übertragen zu können. Eine genaue Bestimmung dieser Schwelle ist jedoch kaum möglich, da sie sich unter verschiedenen Bedingungen verändert.

      Die Interdependenzhypothese verweist darauf, dass fehlende fremd- bzw. zweitsprachliche Kompetenz durch eine hohe Lesekompetenz in der L1 ausgeglichen werden kann, wenn ein Transfer von Lesefertigkeiten und -strategien von der L1 auf die L2 stattfindet. Eine Studie wie von Christine Biebricher zum Lesen in der Fremdsprache Englisch (2008) zeigt jedoch, dass auch kompetentere Leser*innen in der L2 nicht dieselbe Lesekompetenz wie in der L1 aufweisen. Dies wird auf geringer ausgeprägte Sprachkompetenzen, geringer ausgeprägte Diskurskenntnisse und ein geringeres Ausmaß an Kontakt mit der Schriftsprache in der L2 zurückgeführt (vgl. auch Ehlers 1998: 179–186).

      Was ist Lesekompetenz?

      Lesekompetenz ist – einmal mehr in der heutigen Informations- und Wissensgesellschaft – eine Schlüsselkompetenz, die als Voraussetzung der Teilhabe am öffentlichen Leben gilt. In den PISA-Richtlinien zur Testkonzeption beispielsweise, denen ein kognitives Modell von Lesekompetenz zugrunde liegt, wird diese als Fähigkeit beschrieben, „geschriebene Texte verstehen, nutzen und über sie reflektieren zu können, um eigene Ziele zu erreichen […] und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“ (Artelt et al. 2001: 80). Lesekompetenz geht jedoch über die Entnahme und Reflexion von Informationen aus Texten hinaus. Sie besitzt auch motivational-emotionale und kommunikativ-interaktive Dimensionen. Lesen zu können eröffnet vielfältige Möglichkeiten der Kommunikation und auch der ästhetischen Erfahrung im Umgang mit Schrift und poetischen Formen des Erzählens.

      Auf Seiten der Lernenden bedarf es für das Lesen grafo-phonologischen, syntaktischen, semantischen und kontextuellen Wissens. Kognitionspsychologisch orientierte Modellierungen von Lesekompetenz unterscheiden sich darin, ob für den Leseprozess stärker textgeleitete (bottom up) oder stärker wissensgeleitete Verarbeitungsrichtungen (top down) angenommen werden. Zu favorisieren ist aber ein interaktives Modell, in dem das Dekodieren und Wiedererkennen