Weit entfernt von solchen quantitativen Eskapaden ist der Internatsschüler in Rosenheim im Alpenvorland, der 16-jährige Benjamin, der in dem Roman Crazy (1999) von Benjamin Lebert mit seinen Freunden eines Abends unerlaubt das Internat verlässt. Auf der gemeinsamen Zugfahrt nach München liest er ihnen aus Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer (1952) vor. Die Schüler sind begeistert, räsonieren über ihr eigenes Leseerlebnis und darüber, was gute Literatur ausmache. Dabei wird klar, dass sie selbst bisher überhaupt nur ein oder zwei Bücher gelesen haben.
Beide – Christian und Benjamin – sind nicht innovativ, sie orientieren sich am Kanon und schreiben ihn fort, ohne sich der Prozesse bewusst zu werden, in die sie mit ihrem Lesen involviert sind. Und – so könnte man fortfahren – indem wir diese Texte lesen, werden auch wir als Lesende in die weitere Kanonisierung der in den Romanen genannten Texte involviert.
Ein solcher Prozess lässt sich als invisible hand-Phänomen verstehen, wie es von Simone Winko für die Bildung eines Literatur-Kanons beschrieben wird (Winko 2002: 11):
Niemand hat ihn absichtlich so und nicht anders zusammengesetzt, dennoch haben viele ‚intentional‘ an ihm mitgewirkt. […] Er resultiert aus zahlreichen einzelnen Handlungen (Mikroebene), die jede für sich einen anderen Zweck haben als den, einen Kanon zu bilden, und die unter Ausnutzung allgemeiner Prämissen einen Prozess in Gang gesetzt haben, der ihn (auf der Makroebene) dennoch entstehen lässt.4
Man könnte das auch kritisch (oder affirmativ) auf den vorliegenden Band beziehen – auch er kann sich diesem Prozess nicht ganz entziehen. Bei einer ‚kanonsensiblen‘ Lektüre wird außerdem sichtbar, dass sich im Kontext Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in der fachwissenschaftlichen Diskussion wie in der unterrichtlichen Praxis eine Art ‚heimlicher Kanon‘ gebildet hat. So werden in den verschiedenen Kapiteln dieser Einführung einige Texte immer wieder auftauchen, weil sie im Fach häufig für konzeptionelle Überlegungen sowie didaktische und methodische Vorschläge herangezogen werden. Das ist zunächst Goethes Wandrers Nachtlied (→ Kap. 6),5 ebenso Franz Kafkas Gibs auf! (→ Kap. 6, 8, 20),6 und Yoko Tawadas Von der Muttersprache zur Sprachmutter (→ Kap. 18).7 Ähnliche Texte sind Günter Eichs Inventur (→ Kap. 6)8 und Erich Kästners Als ich ein kleiner Junge war (→ Kap. 10).9 Zunehmende Aufmerksamkeit erhält auch Wolfgang Herrndorfs Tschick (→ Kap. 18, 13).10 Peter Bichsels Die Tochter11 gehört ebenso wie Texte der Konkreten Poesie seit über dreißig Jahren zum Repertoire von Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache, ebenso häufig sind Texte wie Erich Kästners Sachliche Romanze, Wolfgang Borcherts Das Brot, Bertolt Brechts Die unwürdige Greisin, Heinrich Bölls Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral, Federica de Cescos Spaghetti für zwei oder Märchen wie Rotkäppchen zu finden. Insbesondere in den Kapiteln 6, 7 und 8 unserer Einführung, die eine auch historische Perspektive auf das Fach werfen, und in Kapitel 20 wird deutlich, wie in verschiedenen Materialsammlungen, Lehrwerken und Fernstudieneinheiten immer wieder ähnliche Texte verwendet werden. Wie Irena Samide (2020) zugespitzt formuliert, „werden über Jahrzehnte meist die gleichen Texte herangezogen, so scheint sich in der Praxis ein Kanon für den DaF-Unterricht herausgebildet zu haben“ (ebd.: 167). Samide weist insbesondere auf lyrische Texte hin, allen voran Gedichte der Konkreten Poesie wie von Ernst Jandl (→ Kap. 6, 7), aber auch Liebesgedichte von Erich Fried und „Unterrichtsklassiker wie Goethes Erlkönig oder Heinrich Heines Lorelei“ (ebd., Hervorh. i.O.). Auch Gedichte von Robert Gernhardt sind häufig zu finden. In ähnlicher Weise wird ein ‚Filmkanon‘ sichtbar – zu ihm gehören Filme wie Schwarzfahrer (1992, R: Pepe Danquart), Sonnenallee (1999, R: Leander Haußmann), Good Bye, Lenin! (2003, R: Wolfgang Becker) und Das Leben der Anderen (2006, R: Florian Henckel von Donnersmarck).
Wichtig bleibt an dieser Stelle sicher noch festzuhalten, was Hartmut Eggert unter der Fragestellung Braucht man einen eigenständigen Kanon für „Deutsch als Fremdsprache“? schon 1995 formulierte:
„Was wir brauchen für den Literaturunterricht im Bereich ‚Deutsch als Fremdsprache‘, sind Kenner der deutschen Literatur und ihrer Geschichte, auch ihrer kanonischen Werke, damit sie gesprächsfähig und kooperationsbereit sind für Partner“ in aller Welt – „Was wir brauchen, sind aber auch Literaturvermittler, die über ein Bewußtsein von Kanonisierungsprozessen und der Wirkung von Kanones verfügen. Durch einen Kanon ist kein Bildungserlebnis dekretierbar […]. Ein Kanon ist ein Angebot zur kulturellen Auseinandersetzung […].“ (Eggert 1995: 207)
4 Literaturdidaktik – Lesedidaktik
Von der Literaturdidaktik zu unterscheiden ist, wenn auch natürlich nicht trennscharf, die Lesedidaktik (vgl. auch Würffel 2013). In ihrem Mittelpunkt stehen die produktive Gestaltung von (individuellen) Leseprozessen und die Förderung von Lesekompetenz, bezogen auf Sach- und Informationstexte wie auf literarische Texte. Die Lesedidaktik beruht auf Ergebnissen der (empirischen) L1-Leseforschung. Diese wurde ab den 1970er/1980er Jahren sowie nach der ersten Studie des Programme for International Student Assessment (kurz: PISA-Test) der Organisation for Economical Cooperation and Development (OECD) im Jahr 2000 noch einmal intensiviert. Die Studie im Jahr 2000 hatte vertieft die Lesefähigkeit getestet. Österreich erreichte Platz 10, die Schweiz Platz 17 und Deutschland lediglich Platz 21 bei insgesamt 32 teilnehmenden Ländern. Dieses Ergebnis wurde besonders in Deutschland in den Medien intensiv diskutiert und als Indikator für die Probleme des Bildungswesens verstanden.1 Vom sogenannten „PISA-Schock“ war und ist bis heute die Rede. Er führte in der Deutschdidaktik zu intensivierten und modifizierten Forschungsaktivitäten und insgesamt zur Einführung von „Bildungsstandards“ und „zentralen Lernstandserhebungen“ sowie zur Orientierung an „Kompetenzzielen“ statt „Stoffzielen“ (vgl. Becker-Mrotzek 2019: 7).2 Die Maßnahmen hatten zwar Erfolg. So erreichte Deutschland in den Studien von 2009 und 2018, bei denen ebenfalls die Lesekompetenz schwerpunktmäßig getestet wurde, deutlich bessere Ergebnisse. Dennoch sind weitere Förderungen in allen Altersstufen nötig. So ergaben Studien des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) für das Jahr 2016, dass „12 % der Schülerinnen und Schüler am Ende der Grundschule die Regelstandards im Lesen“ (Becker-Mrotzek 2019: 9) nicht erreichen. Das Lesen in der L1 und in der L2 stehen – das wird in bisherigen Studien deutlich – in engem Zusammenhang zueinander.
Was ist Lesen?
Lesen ist zunächst das Verstehen schriftsprachlicher Texte. Diese sind in der Regel linear; durch Medienentwicklungen in der Gegenwart gewinnt aber auch das Verstehen nichtlinearer Texte (→ Kap. 11) zunehmend an Bedeutung.
Beim Lesen greifen zwei Vorgänge ineinander: der motorische Vorgang der Augenbewegung, wobei sich die Augen in ständigen Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen befinden, und der kognitive Vorgang der Sinn- und Bedeutungsbildung.
Wie verläuft der Leseprozess?
Detaillierter betrachtet ist das Lesen ein komplexer interaktiver und konstruktiver Prozess, der auf zwei Teilprozessen beruht: dem Dekodieren und Wiedererkennen von grafischen Zeichen und Wörtern sowie der Bedeutungskonstruktion durch die Lesenden. Im Verlauf des Prozesses kommt es, wie in der aktuellen Leseforschung vorausgesetzt wird, zu interaktiven Wechselwirkungen zwischen beiden Teilprozessen. Von den Lesenden werden nicht nur grafische Zeichen (z. B. Buchstaben) identifiziert und zu Wörtern kombiniert, sondern auch semantische und referenzielle Zusammenhänge zwischen Wörtern, Sätzen und satzübergreifenden Bedeutungseinheiten hergestellt und damit mögliche Bedeutungen eines Textes konstruiert (vgl. Westhoff 1997: 46ff., Bimmel 2002: 115). Für die Bedeutungskonstruktion und damit das Verstehen eines Textes sind nicht nur das Sprachwissen der Lesenden, sondern auch ihr Weltwissen und ihr Wissen um Textfunktionen von Bedeutung (Lindauer/Schneider 2007: 110f.).
Es gibt verschiedene Modelle