Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Almut Hille. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Almut Hille
Издательство: Bookwire
Серия: narr Studienbücher LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFT
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823302193
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können (vgl. ebd.: 265). In anderen Grundlagenwerken dagegen – wie z. B. Klausnitzers Einführung Literaturwissenschaft (2012) – werden diese Textarten nicht nur als ‚literaturnah‘ bezeichnet, sondern der Literatur zugerechnet (→ Kap. 1), eine Position, die auch in weiten Teilen der Diskussion in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (vgl. Ewert/Riedner/Schiedermair 2011b: 8, Grimstein/Hille 2018: 209) und in diesem Band vertreten wird (→ Kap. 10, 20).

      Neue Kanonisierungstendenzen sind in der gegenwärtigen Informations- und Wissensgesellschaft vielfach zu beobachten, wird von Leser*innen angesichts der großen Menge der in verschiedenen medialen Formaten ständig edierten Texte doch oft ein Kanon gewünscht – als ein Kompass zur Orientierung. Sie stellen (sich) Fragen wie diese:

      Welche Texte lohnt es sich zu lesen?

      Welche Autor*innen haben (mir) etwas zu sagen?

      Welche Texte werden gelesen und diskutiert? Wo und wie werden sie rezipiert?

      Möglichkeiten zur Orientierung, auch für Lehrkräfte, bieten beispielsweise Nominierungen für Literaturpreise, etwa die Long- und Shortlist für den Deutschen Buchpreis, mit dem jeweils der deutschsprachige „Roman des Jahres“ ausgezeichnet wird, oder die Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis, mit dem jährlich in den Sparten Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch deutschsprachige oder aus einer Fremdsprache ins Deutsche übersetzte Titel geehrt werden. Auch die Nominierungen für den Ingeborg-Bachmann-Preis und die Schweizer Literaturpreise können als Anregung dienen. Leicht zugänglich sind die Informationen auf den jeweiligen Webseiten der Preise (http://www.deutscher-buchpreis.de, https://www.jugendliteratur.de, https://bachmannpreis.orf.at, https://www.schweizerkulturpreise.ch).

      Auch Publikationsprojekte sollen Auswahl und Orientierung für Leser*innen bieten: etwa die Berlin-Bibliothek der Berliner Zeitung (2007), in der 25 der ‚besten‘ Berlin-Romane des 20. Jahrhunderts herausgegeben wurden, auch in Übersetzungen; die Bibliothek der Süddeutschen Zeitung, in der ‚große‘ Romane des 20. Jahrhunderts erschienen sind, nicht nur aus dem deutschsprachigen Raum; oder das Publikationsprojekt des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki Der Kanon. Die deutsche Literatur, in dem in verschiedenen Bänden (2002–2006) ausgewählte Romane, Erzählungen, Dramen, Gedichte und Essays erschienen. Herausgaben wie die von Marcel Reich-Ranicki sind, schon im Titel erkennbar, explizite Kanonisierungsversuche. Sie entstehen auch mit dem Anliegen, Studierenden, Bibliothekar*innen, Lehrer*innen und anderen Personen, die sich professionell mit Literatur beschäftigen, Orientierung und einen schnellen und unkomplizierten Zugang zu den Texten zu bieten. Entsprechend ist auch der Filmkanon zu bewerten, der 2003 von der Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Ziel erstellt wurde, die schulische Förderung von Filmkompetenz zu intensivieren. In ihm sind 33 Spielfilme und zwei Dokumentarfilme verzeichnet, die einen repräsentativen Einblick in die internationale Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts ermöglichen sollen (http://www.bpb.de/lernen/projekte/filmkanon). Nicht mit dem gleichen Anspruch auf Kompetenzentwicklung, aber auch mit einem Bildungsanspruch versammelt die Cinemathek der Süddeutschen Zeitung die ‚Klassiker‘ der Filmgeschichte. Der Berliner Tagesspiegel gab zum 30-jährigen Jubiläum der Deutschen Einheit eine Liste der zwölf wichtigsten Filme über die DDR, den Mauerfall und die Einheit heraus.

      Für die eigene Lektüre wie für die Arbeit mit literarischen Texten kann man sich auch im Internet auf Seiten wie lyrikline.org und zehnseiten.de inspirieren lassen oder beim Blick auf die Spielpläne der Theater und die Programmübersichten der Literaturhäuser; etwa in Leipzig (www.literaturhaus-leipzig.de), Hamburg (www.literaturhaus-hamburg.de), Wien (www.literaturhaus.at) oder Zürich (www.literaturhaus.ch). Orientierung bieten auch die Feuilletons der großen Zeitungen mit ihren literarischen Rezensionen, Theater- und Filmkritiken, die man z.T. auch digital im Netz finden kann.

      Neben den verschiedenen Akteuren des Literaturbetriebs bieten auch die philologischen Wissenschaften Orientierung mit ihren Nachschlagewerken, Fachzeitschriften und anderen Publikationen: Zu nennen wären etwa das Kritische Lexikon der Gegenwartsliteratur (KLG) und der fremdsprachigen Gegenwartsliteratur (KLfG), die als lose Blattsammlungen kontinuierlich erweitert und aktualisiert werden und auch online einsehbar sind. Lektürevorschläge bietet auch die Rubrik Lektürespuren in der Zeitschrift Zielsprache Deutsch, die damit als einzige der Fachzeitschriften für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Gegenwartsliteratur explizit als einen ihrer Gegenstandsbereiche wählt. Seit Heft 1/2011 wird in jeder Ausgabe eine literarische Neuerscheinung auf zwei bis drei Seiten kommentiert; so ist inzwischen ein Fundus von über dreißig Texten entstanden. Auch in Publikationen im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, in den Fernstudieneinheiten sowie in Lehrwerken und Materialsammlungen finden sich literarische Texte und Hinweise auf literarische Texte. Es fragt sich, ob solche Sammlungen in ihrer Heterogenität kanonisierende Funktion haben. Hier sollen sie allenfalls als unverbindliche Lektüreempfehlungen verstanden werden, keinesfalls als Literatur- oder Lektürekanon, die Ackermann (2001) wie folgt bestimmt:

      Zu unterscheiden ist […] einerseits der Typ des Literaturkanons als ‚heimlicher Kanon‘, der, obwohl nicht greifbar vorliegend, das wissenschaftliche und gesellschaftliche Bewusstsein von Literarizität bestimmt und kulturelle Identität prägt, andererseits der Typ des Lektürekanons, in dem für die jeweiligen Adressaten und für bestimmte Ziele (Studiengänge und Lehrpläne, Prüfungsanforderungen, Bildungsansprüche) Literaturlisten als verbindliche Lektürelisten oder Lektüreempfehlungen (z. B. ‚Die hundert besten Bücher‘) aufgestellt werden. (ebd.: 1347, Hervorh. i.O.)

      Auch Ralf Klausnitzer präsentiert in seiner Einführung Literaturwissenschaft (2012), die sich vorrangig an Studierende richtet, auf zwölf Seiten Lektüreempfehlungen für das Studium der germanistischen Literaturwissenschaft; die Liste „impliziert“ jedoch „keinen Kanon, sondern soll Anhaltspunkte für die Auswahl eigener Lektüren bieten“ (ebd.: 438). Chronologisch und nach Jahrhunderten geordnet bietet er eine Liste mit Titeln zur älteren deutschen und zur neueren deutschen Literatur, die für das 21. Jahrhundert u.a. Lutz Seilers Gedichtband Pech und Blende (2000) und Terézia Moras Roman Alle Tage (2004) enthält und mit den Romanen Die Vermessung der Welt (2006) von Daniel Kehlmann (→ Kap. 6) und Der Turm (2008)1 von Uwe Tellkamp endet.2

      Will man Fragen des Kanons und der Kanonisierung mit Lernenden reflektieren, kann man auch auf literarische Texte zurückgreifen, die selbst – explizit oder implizit – Kanonisierungsprozesse beobachten. So schlägt Wolfgang Hallet (2004: 227) für den fremdsprachlichen Englischunterricht die Arbeit mit Nick Hornbys Roman High Fidelity (1995) vor, dessen Protagonist Rob Fleming fortlaufend ‚bedeutsame‘ Texte, d.h. Popsongs für seine top five lists zusammenstellt. Damit tritt er auch „in einen Diskurs darüber ein, ob und warum ein bestimmter Text in einer bestimmten Weise kanonisiert werden, also Aufnahme in das kulturelle Archiv einer Gesellschaft finden soll“ (Hallet 2004: 226f.).3

      Textbeispiel

      Der Protagonist Christian Hoffmann in Uwe Tellkamps Bildungsroman Der Turm (2008) dagegen erspart sich den Umweg der Reflexion und des selbstbestimmten Auswählens. Auf dem Bildungsweg bzw. dem ‚Weg des Paukens‘, den er sich selbst als 17-jähriger Gymnasiast im Internat Waldbrunn im Erzgebirge verordnet hat, zählt er eine ganze Reihe an literarischen Texten von Mark Twain und Jules Verne über Goethe und Thomas Mann zu Tolstoi und Dostojewski auf, die es zu lesen gelte für