Ein solches Umgehen mit literarischen Texten möchten wir mit dem Konzept des Arbeitens mit Textnetzen auch für das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache empfehlen (→ Kap. 10, 18).
Einen anderen Zugang zu literarischen Texten über neuere Konzeptionen von Literaturgeschichte bietet die 2017 von Sandra Richter publizierte Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. Ihr Ziel sind Aufschlüsse darüber, „wie deutschsprachige Literatur in der Welt wahrgenommen wird“ (Richter 2017: 18). Anhand von „Fallbeispielen und ausgewählten Erzählungen“ mustert die Autorin „Verbreitungsformen und Verbreitungswege“ von Literatur sowie ästhetische und ethische Wertungen als Momente der Wahrnehmung und Deutung (ebd.).
Textbeispiel
Rainer Maria Rilke zum Beispiel erscheint in dieser Perspektive als „Vierländerdichter“ und „poeta touristicus“, der durch die Alpen und Italien, nach Ägypten, Schweden und mehrmals nach Russland reiste (vgl. ebd.: 275). Er schrieb auf Deutsch und Französisch, äußerte sich auch auf Russisch (vgl. ebd.). Weltweit rezipiert wurde besonders sein Spätwerk: Die Duineser Elegien (1923) zum Beispiel wurden ab 1927 zunächst ins Japanische, Polnische, Tschechische und Englische übersetzt; heute sind sie in allen Ländern Nord- und Südamerikas, Europas sowie in vielen asiatischen Ländern in entsprechenden Übersetzungen verbreitet (vgl. ebd.: 277ff.). Zu Intertexten wurden die Elegien etwa für das literarische Bekenntnis Einsiedler [Otšelnik] (1929) des bulgarischen Symbolisten Teodor Trajanov und für die Erzählung The Hungry Tide (2004) von Amitav Ghosh aus Indien. Mit einer solchen Betrachtungsweise wird deutschsprachige Literatur als Hybrid gekennzeichnet, das sich (inter-)regional, europäisch und global entfaltet und mehrsprachig ist (vgl. Richter 2017: 19f.). Gleichzeitig rücken die Lesenden in den Fokus. Denn es liegt weniger an einem „Text selbst, wie er wahrgenommen und gedeutet wird, als an seinen Lesern, ihren Interessen und Deutungsgewohnheiten“ (ebd.: 21).
Ein solches Konzept ist einerseits in seiner Fokussierung auf die Lesenden anschlussfähig an Diskussionen im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (→ Kap. 20), andererseits eröffnet es neue Dimensionen einer Literaturbetrachtung, die für das Fach von Bedeutung sind. In den Fokus rücken Phänomene wie die Vernetzung von Texten (→ Kap. 10), Intertextualität und Intermedialität (→ Kap. 11), Mehrsprachigkeit (→ Kap. 13), aber auch Übersetzungen als Aneignungen, verschiedene Kultur- und Wissenschaftsbetriebe, Zeitenwenden, zivilisatorische (Auf-)Brüche sowie globale Literaturentwicklungen und ein Global Mainstream oder Western Canon (vgl. ebd.: 467–480).
3 Gibt es einen Kanon?
Braucht man einen eigenständigen Kanon für „Deutsch als Fremdsprache“? fragte Hartmut Eggert in einem so betitelten Aufsatz 1995, um diese Frage anschließend vorrangig mit Blick auf das Fach Deutsch als Fremdsprache und die internationale Germanistik zu diskutieren und letztendlich zu verneinen. Entscheidend ist dabei das Wörtchen „einen“: Den einen, starren, über längere Zeit gültigen Kanon für ‚das‘ Fach Deutsch als Fremdsprache oder ‚die‘ internationale Germanistik kann es nicht geben. Von Lehrkräften wird immer unter regional-, institutionen- und gruppenspezifischen Aspekten sowie curriculum- und prüfungsbezogen erwogen werden, welche literarischen Texte für Lehre und Unterricht geeignet erscheinen.
In den frühen Debatten um die Auswahl literarischer Texte für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache waren einige Diskussionsfelder der 1970er Jahre um einen Kanon für den schulischen (Deutsch-)Unterricht in der Bundesrepublik wiederzuerkennen. Sie scheinen weiterhin relevant zu sein. Es ging und geht um Fragen wie
moderne vs. ältere Texte
Weltliteratur vs. Nationalliteratur
Trivialliteratur vs. hohe Literatur
Gebrauchsliteratur vs. Dichtung
verschüttete und unterdrückte Literatur vs. etablierte Literatur (vgl. Eggert 1995: 199f.).
Von ‚einem‘ Kanon wird dabei kaum gesprochen, haben die literaturwissenschaftlichen und -didaktischen Debatten seit den 1970er Jahren doch einerseits zu verschiedenen Erweiterungen eines traditionellen (Bildungs-)Kanons und andererseits zu einer äußerst kritischen Reflexion des Kanon-Begriffs an sich geführt. Erst in jüngerer Zeit scheinen Kanon-Debatten wieder eine Konjunktur zu erleben. In ihrem Mittelpunkt steht die Frage, was Literatur im digitalen Zeitalter eigentlich sei und welche Bedeutung sie haben könne (→ Kap. 1). Einem literarischen Kanon wird dabei eine mögliche Orientierungs-, Ordnungs- und (Be-)Wertungsfunktion in der Menge der in verschiedenen medialen Formaten edierten Texte zugeschrieben.
Was sich hier in aller Kürze zusammengefasst findet, ist das Ergebnis eines langen Prozesses (vgl. zur folgenden Skizze Ackermann 2001: 1346–1350, Ewert 2010: 1555–1560, Winko 2013: 363):
Anfänge
Der Begriff „Kanon“ selbst (griech.: Regel, Maßstab, Richtschnur; urspr. Schilfrohr, Messrute) ist bereits in der Antike bekannt, auch die damit bezeichnete Vorstellung eines Gemeinsamen und Verbindlichen. So wurde er verwendet, um eine Sammlung von Regeln eines Fachgebiets, eine Sammlung von Texten oder auch bestimmte Ziel- und Idealvorstellungen zu bezeichnen und implizierte von Anfang an die Dimension des Normativen (vgl. Ackermann 2001: 1346, Ewert 2010: 1555). Im 2. Jahrhundert vor Chr. fanden sich im griechisch-römischen Bereich auch bereits Listen mit Namen von wichtigen Autoren – Dichtern, Rednern, Philosophen, Historikern –, die als Vorbilder galten.
Theologie als Vorbild
War das Kanonkonzept später zunächst vor allem in der Theologie produktiv aufgenommen worden – als Zusammenstellung der Texte, die für den christlichen Glauben als verbindlich galten – legte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Pierre-Daniel Huet (1630–1721), Bischof von Avranches, eine Sammlung von Weltliteratur vor, die als der erste moderne Kanon gelten kann. Zunächst unter dem Titel Traité de l’origine des romans erschienen, wurde sie zwar ins Deutsche übersetzt, fand aber wenig Aufmerksamkeit. Eine Zusammenstellung von klassischen griechischen und lateinischen Texten, die der Göttinger Altphilologe und Pädagoge David Ruhnken (1723–1798) im 18. Jahrhundert als Schulkanon zusammenstellte, war dagegen erfolgreich.
Materialer Kanon und Deutungskanon
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts spricht man von einem literarischen Kanon, als der „gewöhnlich ein Korpus literarischer Texte bezeichnet [wird], die eine Trägergruppe, z. B. eine ganze Kultur oder eine subkulturelle Gruppierung, für wertvoll hält, autorisiert und an dessen Überlieferung sie interessiert ist“ (Winko 2013: 363). Dabei stehen ein materialer Kanon, eben dieses Korpus literarischer Texte, und ein Deutungskanon, ein Korpus von Interpretationen, in dem aufgehoben ist, welche Deutungen und Wertvorstellungen mit den kanonisierten Texten verbunden werden können, nebeneinander (ebd.). Beide sind z. B. für den Prozess der Nationenbildung