Literaturdidaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Almut Hille. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Almut Hille
Издательство: Bookwire
Серия: narr Studienbücher LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFT
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823302193
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Rolle der Form für deren (Be-)Deutung (form as meaning),

      Medialität,

      Deautomatisierung,

      diskursive Vernetzung und

      die Partizipation an fremdsprachigen Diskursen als übergreifender Zielsetzung des Fremd- und Zweitsprachenunterrichts.

      Im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache wird dieser Entwicklung in hohem Maße Rechnung getragen; sie ist forschungsleitend in den letzten Jahren. Das betont aus anglistischer Sicht auch Laurenz Volkmann (2015) und hebt die jüngeren Beiträge der fachwissenschaftlichen Diskussion in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache diesbezüglich als vorbildlich hervor:

      Sie drehen ein oft vernommenes Hauptargument gegen den Einsatz von Literatur im Fremdsprachenunterricht bzw. für eine Reduktion von literarisch-ästhetischen Elementen gewissermaßen um. Nicht allein als fiktionaler Steinbruch für landeskundliche Phänomene oder interkulturelle Fremderfahrung habe Literatur zu wirken, sondern – im Gegenteil – Literatur solle im Mittelpunkt eines […] Unterrichts stehen. (Volkmann 2015: 367)5

      Mit dieser Betrachtung rücken andere, im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache ebenfalls vertretene Positionen in den Hintergrund, die literarische Texte zunächst als Medien für sprachliches und kulturelles Lernen auffassen. In dieser Perspektive werden literarische Texte hauptsächlich in entsprechenden Bedingungsgefügen gesehen. Für das sprachliche Lernen (→ Kap. 6) wird etwa hervorgehoben, dass literarische Texte für die Präsentation und Übung eines grammatischen Phänomens von Bedeutung sein können; eine Position, die sich auch in vielen Lehrwerken findet. Auch die Beschäftigung mit einem Aspekt wie der Literarizität von Texten generell, den literarische Texte jedoch in besonders auffälliger Weise ausstellen, kann in dieser Perspektive sprachliches Lernen fördern.

      Mit dem Fokus auf dem kulturellen (bzw. landeskundlichen) Lernen werden die Lektüren literarischer Texte mitunter den Kulturstudien, der Kulturvermittlung bzw. Landeskunde im Fach subsumiert (→ Kap. 7), in besonderem Maße werden literarische Texte im Fokus des interkulturellen Lernens betrachtet (→ Kap. 8).

      Eine andere Position betrifft das philologische Handlungswissen von Lernenden. Argumentiert wird, dass von DaF-Lernenden wenig literaturwissenschaftliche Kenntnisse bzw. philologisches Handlungswissen erwartet und gefordert werden können, die für einen adäquaten Umgang mit literarischen Texten erforderlich wären (vgl. Dobstadt 2009: 27). Das ist in Teilen sicher richtig, wobei – wie nachfolgend noch gezeigt wird – unterschiedliche Lehr- und Lernkontexte zu berücksichtigen wären. Auch richtig sind aber Positionen wie beispielsweise von Andrea Leskovec (2011b) und mit Blick auf die Arbeit mit Spielfilmen Renate Bürner-Kotzam (2011a), dass entsprechendes deklaratives Wissen im Unterricht etwa in Form von Glossaren oder kurzen Erklärungen bereitgestellt und von den Lernenden verwendet, günstigenfalls also zu prozeduralem Wissen werden kann. Eine solche Vorgehensweise setzt allerdings voraus, dass die Lehrenden über entsprechende Kenntnisse verfügen und sie schon in der Unterrichtsvorbereitung einsetzen können. Eine Fallstudie von Almut Hille (2017) in Anknüpfung an Überlegungen von Claire Kramsch (2011) zeigt, dass Studierende als künftige Lehrkräfte nicht in ausreichendem Maße über literaturwissenschaftliche Kenntnisse bzw. philologisches Handlungswissen verfügen. In der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften müssten sie also stärker vermittelt werden.

      Fallstudien, wie die genannte, oder größere empirische Studien werden auch in der Literaturdidaktik des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in den nächsten Jahren eine größere Rolle spielen (müssen). Bislang werden empirische Forschungen insbesondere im Hinblick auf sprachliche Lehr- und Lernprozesse durchgeführt (siehe etwa Riemer/Settinieri 2010, Settinieri et al. 2014 und Riemer 2019). Im Bereich der Literatur- und Kulturvermittlung sind sie noch selten.6 In einem Überblicksartikel zu literaturwissenschaftlich orientierten Lehr- und Forschungsperspektiven im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache entwickeln Dobstadt/Riedner (2014a: 157f.) erste Überlegungen dazu; außerdem stellen sie in einem Beitrag von 2016 eine Pilotstudie zur Arbeit mit einer Lehrbuchlektion vor, die im Hinblick auf eine Literarizitätsdidaktik modifiziert und mit einer Gruppe von Lernenden evaluiert wurde. Potenzial für empirische Forschungen sehen sie vor allem in rezeptions- und leserbezogenen sowie methodisch-didaktischen Fragen, bei denen es um die Evaluierung von Aufgabenstellungen und Unterrichtskonzepten für das Erreichen von literaturbezogenen Lehr- und Lernzielen geht. Neben diesen generellen Überlegungen finden sich erste empirische Forschungen zu Unterrichtskonzepten, die auf der Basis literaturtheoretischer Diskussionen zur diskursiven Verfasstheit literarischer Texte (→ Kap. 10) modelliert wurden. In zwei Beiträgen zur Arbeit mit Texten der Gegenwartsliteratur im Rahmen von internationalen Masterstudiengängen für Deutsch als Fremdsprache bzw. von Fortbildungen für Deutschlehrer*innen in der internationalen Germanistik wurden Daten zu den Lektüren von Studierenden und Lehrenden erhoben und ausgewertet (Hille/Schiedermair 2018, Schiedermair 2020). Wie diese (ersten) Überlegungen und Publikationen zeigen, steht die Forschung hier noch am Anfang. Es gilt, weiter auszuarbeiten, welche Fragestellungen sich mit empirischen Forschungsmethoden bearbeiten lassen und welche Forschungsdesigns geeignet sind. Dabei sind insbesondere die (sehr) heterogenen Kontexte von Lehr- und Lernprozessen in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache zu berücksichtigen. Anders als in den philologischen Fachdidaktiken, die auf erstsprachliche oder fremdsprachliche Literaturvermittlung in der Schule ausgerichtet sind und die institutionellen Gegebenheiten wie Schulformen, Jahrgangsstufen, Curricula, Prüfungsordnungen und Bildungsstandards teilen, unterscheiden sich diese erheblich. Wie oben bereits skizziert, stellt Literaturdidaktik im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache einen komplexen Zusammenhang dar, bei dem es auch gilt, zwischen unterschiedlichen

      Lernsozialisierungen,

      Ausgangssprachen,

      Sprachniveaus

      und Kursformaten

      zu differenzieren (vgl. Rösler 2012: 227–237, Schiedermair 2020: 95).

      Kommen wir auf das Lemma „Literaturdidaktik“ im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (2013) zurück. In ihm wird neben oder als Teil der Literaturwissenschaft auch die Literaturgeschichte als Bezugswissenschaft der Literaturdidaktik genannt. Wir möchten ihr einen Stellenwert einräumen, obwohl oder gerade weil im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache so oft, wenn (überhaupt) von der Arbeit mit Literatur im Unterricht die Rede ist, die Gegenwartsliteratur im Vordergrund steht.7 Unberücksichtigt bleiben dann die Bezüge zum Vergangenen im Gegenwärtigen, „the echoes of past narratives“ in der Gegenwart wie Piera Carroli (2008: 186) sie in ihrer Studie Literature in Second Language Education nennt. Vor diesem Hintergrund plädiert auch Neva Šlibar (2011) für die Beachtung literaturhistorischer Dimensionen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Sie schlägt ‚Spaziergänge‘ durch die Literaturgeschichte vor, die Lernende z. B. in eigenständigen Recherchen und nachfolgenden Präsentationen oder Inszenierungen unternehmen können – in Gruppenarbeit und ohne Schwellenängste gegenüber Nachschlagewerken. Literaturgeschichte(n) würde(n) so erlebbar und Text-Kontext-Dimensionen ohne Reduktion auf einen ‚Biografismus‘ der Autor*innen nachvollziehbar (vgl. Šlibar 2011: 85).

      Ein Nachschlagewerk, prädestiniert für ein solches Vorgehen, wäre z. B. die von David E. Wellbery u.a. herausgegebene Neue Geschichte der deutschen Literatur (2007). Sie steht für methodische Neuausrichtungen auch der Literaturgeschichtsschreibung. Ziel der gewählten Art der Darstellung von Literaturgeschichte ist es, einzelne Texte als „einzigartige Ereignisse“ (ebd.: 15) wahrzunehmen. Sie sollen nicht als „Veranschaulichungen einer Macht, einer Neigung oder Norm – als Geist eines Zeitalters oder einer Nation, als Klassenvorliebe oder ästhetisches Ideal“, als „typisch für etwas“ betrachtet werden (ebd.). Vielmehr sollen „wirkliche Begegnungen“ mit Texten ermöglicht werden, da es diese Begegnungen sind, die letztendlich das „Erregende der Leseerfahrung“ ausmachen (ebd.). Literaturgeschichte wird als Netz von Ereignissen erzählt, in dem Lesende sich nach Belieben bewegen können. So verweist das Inhaltsverzeichnis nicht auf einzelne Epochen, Dekaden oder Autor*innen sondern formuliert (im besten Fall Neugier erzeugende) Stichworte wie 1647. Dramaturgie des Reisens, 1804. Die Nacht der Phantasie oder Januar 1931. Irmgard Keun und die ‚Neue Frau‘. Jeder Eintrag beginnt mit einem