Im 19. Jahrhundert entwickelten sich mit der nationalen Literaturgeschichtsschreibung und der Herausbildung des Bildungsbürgertums die Vorstellungen und Praxen des Kanonkonzepts, die dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Kritik gerieten wegen der Ausschlussmechanismen und hierarchischen Strukturen, die sie beförderten. Insbesondere die herausragende Stellung, die den Texten der Weimarer Klassik zugeschrieben wurde, führte einerseits dazu, dass andere Texte automatisch zu Vorläufern oder Nachahmern degradiert wurden, und andererseits dazu, dass Autor*innen ausgeschlossen wurden, auch solche, deren Texte heute selbstverständlich als lohnende Lektüren gelten (vgl. Ewert 2010: 1555, 1558).
Kritik am Kanon
In den 1960er Jahren werden der „Allgemeinverbindlichkeitsanspruch“ und die damit verbundenen Implikationen von „Hierarchie, Ausschließlichkeit und Nicht-Zugehörigkeit“ (Ewert 2010: 1556) des bildungsbürgerlichen und akademischen Kanons kritisiert als „Machtinstrument“, das „bloß gesellschaftliche Partialinteressen verkörpere“ statt „alle Teile der Gesellschaft demokratisch zu repräsentieren“ sowie als „eine Form von Zensur“, die „der implizierte Ausschluss von Werken aus der literarischen Tradition einer Gesellschaft“ darstelle (ebd.: 1557). Die Diskussionsfelder, die sich entwickelten – etwa die oben bereits genannten Felder: Schwerpunkt auf der Gegenwartsliteratur, Abwertung der sogenannten Nationalliteratur, Einbeziehung von Trivial- und Unterhaltungsliteratur, Berücksichtigung verschiedener Textarten und Genres, Verwendung verschiedener medialer Formen – lassen sich mit Ackermann (2001) unter dem Stichwort „Entkanonisierung ‚klassischer‘ Literatur“ (ebd.: 1349) fassen.
Ideologiekritische Ansätze
Daneben finden sich zwei weitere Diskussionszusammenhänge, die den Kanon in Frage stellen: ab den 1970er Jahren „[i]deologiekritische Ansätze“ (ebd.) sowie ab den 1980er Jahren „[f]eministische Positionen“ (ebd.). Dabei geht es insbesondere in der US-amerikanischen Diskussion ausgehend von der Kategorientrias race, class, gender (vgl. ebd., Ewert 2010: 1559) um die Ausarbeitung und Etablierung eines Gegenkanons. Darüber hinaus steht das Konzept Kanon grundsätzlich in der Kritik im Rahmen von Positionen, die auf eine „Entkolonialisierung des Kanons“ und eine „Entkanonisierung“ überhaupt zielen (Ackermann 2001: 1349, kursiv i.O.). Der literarische Kanon wird kritisiert als „Aushängeschild kultureller Hegemonieansprüche einer europäisch geprägten weißen Bürgerschicht“, als einer eurozentrischen Perspektive verpflichtet, die eine Einschränkung auf bestimmte Autoren – zugespitzt in der Formulierung von den „DEAD WHITE MALES“ (Volkmann 2017: 214, Hervorh. i.O.) – zur Folge hat.
Feministische Ansätze
Die feministische Literaturwissenschaft hat die Aufnahme von Autorinnen in die Literaturgeschichten, Leselisten an Universitäten und Schulcurricula eingefordert und die „Rekonstruktion weiblicher literarischer Traditionen“ (Ewert 2010: 1558). Dabei ging es nicht darum, den Kanon zu ergänzen, sondern die Prozesse, die zu Kanonisierung führen, zu hinterfragen und zu verändern, also auch um eine „Neuformulierung literaturhistorischer Prinzipien“ (ebd.). Auch die kritische Analyse von „Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen und -entwürfen“ zielte darauf, Schreib- und Lesegewohnheiten in ihren problematischen Verstrickungen sichtbar zu machen (vgl. ebd.). Diese Diskussionen desavouierten aus verschiedenen Perspektiven den vorhandenen Kanon und zeigten die komplexen Kanonisierungsprozesse und ihre Ausschlussverfahren gesellschaftlich „nicht-dominanter Kulturen und Gruppierungen“ (ebd.).
Angesichts dieser vehementen Kritik stellt sich die eingangs zitierte Frage, die auch Ackermann an den Anfang ihres Artikels stellt „Brauchen wir noch einen Kanon?“ (2001: 1346). Die pragmatische Antwort darauf, die sich nach der grundlegenden Kritik und Abwendung von Begriff und Konzept ab den 1960er Jahren als Praxis in den verschiedenen Bildungsinstitutionen und im Literaturbetrieb entwickelt hat, ist die Arbeit mit einer Pluralität von heterogenen, offenen und dynamisierten Formen von Leselisten und Kanones. Wie Ewert (2010: 1599) schreibt, bietet sich „im Nebeneinander von Sub-, Gegen- und Alternativkanones“ ein „kreatives Potential“ für Forschung, akademische Lehre und (Schul-)Unterricht an.
Aus der Perspektive des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache konturieren sowohl Ackermann in ihrem Beitrag im Handbuch Deutsch als Fremdsprache (2001: 1351f.) als auch Ewert in seinem Beitrag in der zweiten Ausgabe des Handbuchs (2010: 1560ff.) die Rolle der sogenannte. „Gastarbeiter-“, „Ausländer-“, „Migranten-“ und „Migrationsliteratur“ bzw. der interkulturellen Literatur (→ Kap. 8, 13) für Fragen des literarischen Kanons. Denn auch die zunehmende und zunehmend selbstverständlichere Aufmerksamkeit für Texte, die lange Zeit diese Zuschreibungen erfahren haben und z.T. immer noch erfahren, führte und führt zu Textzusammenstellungen jenseits des oben skizzierten traditionellen Kanonverständnisses und stellt so das Konzept an sich in Frage. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass die Arbeit mit entsprechenden Texten unter Rückgriff auf einen „offenen, prozessualen und dialogischen Kulturbegriff“ (Ewert 2010: 1560) die Auseinandersetzung mit zentralen Aspekten der Gegenwart wie u.a. Alterität, Hybridität, postkolonialer Kritik und Globalisierungsprozessen ermöglicht.
Nach diesem kurzen Blick auf die Entwicklung von Begriff und Konzept sowie auf die verschiedenen kritischen Positionen der intensiven Diskussionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre für unseren Zusammenhang festzuhalten: Ein Kanon entsteht nicht, indem Texte aufgrund gewisser zeitloser literarischer Qualitäten in ihm positioniert werden; er ist vielmehr ein variables Ergebnis vielfältiger Deutungs-, Identifikations- und Auswahlprozesse, in denen inner- und außerliterarische Faktoren eine Rolle spielen (vgl. Winko 2013: 363). Literaturwissenschaft, Literaturgeschichtsschreibung und -kritik spielen in Prozessen der Kanonisierung ebenso eine Rolle wie verschiedene öffentliche und private Institutionen und Unternehmen: Schulen, Schulämter und Kultusministerien, Universitäten, Hoch- und Fachschulen, Archive, unter entsprechenden politischen Umständen Zensurbehörden (die von ihnen indizierten Texte können auch einen Negativ- oder Gegen-Kanon bilden), Verlage, Buchhandel und Bibliotheken, Theater, Filmproduktions- und -verleihfirmen, Presse, Rundfunk und Fernsehen sowie literarische Gesellschaften, Literaturhäuser, Literaturagent*innen, Übersetzer*innen und Mittlerorganisationen, auch der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik.
Die Kanonisierung literarischer Texte ist immer als dynamischer Prozess zu betrachten. Als solcher unterliegt er andauernden und immer neuen gesellschaftlichen Debatten um Traditionsbegriffe, Geschichtserzählungen und Gedächtnisinhalte, um Generationenverständnisse und -identifikationen, um geschlechtliche, ethnische und sprachliche Identifikationen, um Literaturbegriffe und literatur- wie kulturwissenschaftliche Innovationen. Er ist geprägt von steten Infragestellungen, Erweiterungen und Revisionen. Erst die Wirkungsgeschichte von literarischen Texten, oft bei ihrem Erscheinen nicht absehbar und auch nicht nur von ihrer literarischen Qualität abhängig, entscheidet über deren mögliche (temporäre) Kanonisierung. Auch der Kanon selbst zeigt in diesem dynamischen Prozess Wirkungen, repräsentiert er doch grundlegende Begriffe von Traditionen, Geschichte, Wissenschaft und gesellschaftlichen Identifikationen, die ggf. in Frage gestellt werden (müssen). Einen verbindlichen, feststehenden Kanon literarischer Texte gibt es also weder für den (schulischen) Unterricht von Deutsch als Erst-, Zweit- oder Fremdsprache noch für die (inter-)nationale Germanistik und die Ausbildung von Lehrkräften.
Gleichzeitig haben Kanon-Debatten immer eine Bedeutung für das Selbstverständnis und die Entwicklung von (akademischen) Fächern, für (Selbst-)Vergewisserungen und Innovationen. In der Auseinandersetzung mit Begriffen von Literatur, (nationaler) Tradition, Geschichte und Gedächtnis, Bildung, Wissen und Wissenschaft werden gesellschaftliche und ästhetische Positionen verhandelt.
Welche Auswirkungen auf den Kanon, also auf eine Zusammenstellung von Texten, unterschiedliche Fassungen von Literatur- und Genrebegriffen haben, sei hier an einem Beispiel skizziert: In ihrer Einführung Literaturdidaktik (2016) verstehen Leubner/Saupe/Richter Textarten wie Briefe, Essays, Reiseberichte