Phantastica. Lewin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lewin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783940621771
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Dieses Stück von meist vererbtem Individualleben, die persönliche Veranlagung, die sich durch kein erkennbares äußerliches Körperverhalten und durch keine Gewebs- oder Säfteverschiedenheit verrät, muss für jeden reaktionsmöglichen Einfluss bewertet werden. Sie besteht nicht nur, sondern drängt sich meistens sogar auf. Ihre große Bedeutung leugnen, ist ein Zeichen medizinischer Unbildung, sie unterschätzen kann verhängnisvoll werden, in ihrem Wesen sie zu erklären wird nie einem Sterblichen gegeben sein. Sie wirkt und ist doch in allen ihren Teilen ein Mysterium. Der Versuch, für ihre Deutung nun gar die inkretorischen Drüsen heranzuziehen, muss, schon weil er eine allzubeschränkte Auffassung der Persönlichkeit verrät, zurückgewiesen werden. Sie stellt eine Gleichung mit so vielen unbekannten Größen dar, dass ihre Auflösung unmöglich erscheint.

      Sie bringt es auch zuwege, dass normale körperliche Verrichtungen individuell so verschieden sind. Kaum eine Funktion von Körperorganen, von der Gehirn- und Rückenmarkstätigkeit an bis zu der Arbeit der Drüsen, der Assimilation von Nahrung, den allgemeinen Stoffwechselvorgängen, der Bewegung innerer Organe, der Kraftentfaltung muskulöser Teile, vollzieht sich bei den verschiedenen Menschen in gleich starker Weise. Diesen Verschiedenheiten in der Höhe physiologischer Leistung gleichzustellen sind diejenigen der reaktiven Äußerungen auf körperfremde Einflüsse. Nichts hat, von der ältesten Zeit bis heute, Ärzte und Laien biologisch so in Erstaunen gesetzt, wie die Tatsache, dass Krankheitsursachen, einschließlich der Arzneistoffe, Gifte und Genussmittel einen so verschiedenen Resonanzboden bei gewissen Menschen und Tieren finden.

      So wird schon in früher Menschheitsgeschichte mitgeteilt, wie Verwundungen den einen töteten und schwerere den anderen freiließen, wie gewisse Tiere giftige Pflanzen in Mengen aufnähmen, durch die ein Mensch und andere Tiere vergiftet werden könnten. Galen, der große medizinische [18] Geist, dem man viel mehr als ein Jahrtausend in seinen Anschauungen nachging und der dann von manchem, der ihn nicht kannte, als Irreführer bezeichnet wurde, hat über Toleranz für Schädlichkeiten auf der Grundlage der Gewöhnung und Nichtgewöhnung Betrachtungen angestellt, die mehr wert sind, als die modernen, für den Kundigen bedeutungslosen Umschreibungen der einfachen, aber unerklärlichen Wahrheit, dass eben die wechselvolle reaktive Kraft chemischer Stoffe bei gewissen Individuen oder Rassen unter sonst erkennbar gleichen Verhältnissen kleiner oder größer ist als bei anderen oder überhaupt sich bricht an einer bestimmten eigenartigen Organisation des Betroffenen. Dies gilt auch für die Wiederherstellung von Krankheiten, gleichgültig ob es Wunden oder innere Störungen sind. So kann man es z. B. für wahr halten, dass Neger eine größere Heilungsenergie als Weiße für die ersteren haben. Dieser Erfolg ist nicht auf klimatische Bedingungen, sondern auf ihnen innewohnende Eigenschaften zurückzuführen.

      Die Icheigenschaft kann für jede Art von Einwirkung: mechanische, chemische oder geistige, bestehen und sich durch Über- oder Unterempfindlichkeit kennzeichnen, die ihrerseits wieder die weitestgehenden Äußerungsformen haben können. Ein körperstarker Mensch kann gegen eine bestimmte stoffliche Einwirkung überempfindlich, ein schwacher unter- oder sogar unempfindlich sein. Die persönliche Eigenart schafft auch jene regelwidrigen Verlaufsarten von Vergiftungskrankheiten, auch durch betäubende oder erregende Stoffe, die, da sie einmal möglich sind, keine Voraussage gestatten. Keine Formel und kein Schema gibt es hier, die einen festen Rahmen für die Beurteilung bieten, denn alle gewollte Begrenzung des Urteils durchbricht die Individualität. Wie der Astronom für die Wahrnehmung mit seinem Auge eine „persönliche Gleichung“ hat, so gibt es wahrscheinlich für jeden Menschen, wie ich es [19] nannte – und kleine literarische Diebe es nachschrieben – eine „toxische Gleichung“, d. h. eine verschiedene Empfindlichkeitsgröße des Gesamtkörpers oder einzelner Organe gegenüber verschiedenen chemischen Stoffen. Sie bringt es zuwege, dass die funktionelle Reaktion auf einen solchen Stoff bei dem einen quantitativ, bisweilen auch qualitativ anders verläuft als bei einem anderen. Das Unfassliche wird auf diesem Gebiete zum Ereignis, dass z. B. von zwei Menschen, die in dem gleichen Räume der gleichen Einwirkung von Kohlenoxyd ausgesetzt sind, der eine leicht erkrankt, der andere stirbt oder mit einem unheilbaren Gehirnleiden oder einer Lungenentzündung oder einem Lungenzerfall oder anderen geweblichen Ernährungsstörungen dem Gifte seinen Tribut zahlt.

      Die Umsetzung der Wirkungs- bzw. Gefährdungsmöglichkeit in die Schädigungswirklichkeit vollzieht sich durch alle den menschlichen Körper treffende Einflüsse nicht einheitlich gleich. Keinem Menschen war es bisher gegeben, zu erkennen, warum dies letzten Endes so ist. Auch für alles solches Geschehen gilt noch immer und wird in aller Zeit das Wort Albrechts v. Haller Geltung haben:

       Ins Innere der Natur

       Dringt kein erschaffener Geist,

       Glückselig, wem sie nur

       Die äußere Schale weist.

      Mit einer sehr viel geringeren sachlichen Berechtigung als es vielleicht einmal von einem Berufenen, am Forschungswerke Beteiligten, geschehen könnte, hat Goethe versucht diesen Ausspruch zurückzuweisen. Für den Dichter „hat Natur weder Kern noch Schale – alles ist sie ihm mit einem Male“. Was aber Haller meinte, ist leider nur zu wahr. In der Biologie und allem anderen, was die Natur als Lösungsproblem von Unverständlichem und Unverstehbarem dar-[20]bietet, gibt es wirklich Schale und Kern: das Sichtbare und das dem Wesenheitserkennen Verschlossene. Vor allem in der Biologie. Wir erblicken allenthalben nur das Zifferblatt des Geschehens, mit seinen Zeigern, allein das Werk mit seiner treibenden Kraft zu erkennen, vermögen wir nicht. Es besteht hier die gleiche Kluft wie auf dem Gebiete des kausalen Erkennenwollens und Nichterkennenkönnens der Entstehung von Lebewesen oder eines ihrer Gewebe oder auch nur einer ihrer Zellen. Die Überzeugung von Kant in dieser Beziehung wird immer wahr bleiben: „Eher wird die Bildung aller Himmelskörper, die Ursache ihrer Bewegungen, kurz der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues eingesehen werden können, ehe die Erzeugung eines einzigen Krautes oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kund wird“. Auch „chemische Gründe“ werden nie zum Ziele führen.

      Jeder Mensch trägt seine eigenen, individuellen biologischen Gesetze in sich und jeder ist der Träger seiner eigenen psychologischen Komplexe. Mithin gibt es auch keine psychologischen Konstanten. Jeder Versuch solche zu konstruieren, trägt a priori den Stempel der Unfruchtbarkeit in sich. Es ist aus diesem Grunde eine sichere aprioristische Beurteilung dessen, was an Wechselwirkung zwischen einem Stoff und dem Körper eintreten wird, unmöglich. Es ist bezeichnend, dass auch ein Mann wie Kant die hohe Bedeutung der Individualverschiedenheiten so erkannt hat, dass er an einen Arzt, Marcus Herz, schreiben konnte: „Studieren Sie doch ja die große Mannigfaltigkeit der Naturen.“

      Den eben vorgeführten Problemen gleichwertig ist das der Gewöhnung, das bereits seit frühester medizinischer Zeit die Denker beschäftigt hat. Die Gewöhnung umfasst körper[21]lich reaktive Ereignisse, die bisher keinerlei Möglichkeit einer begründeten, zuverlässigen Erklärung zuließen. Es handelt sich um die Tatsache, dass in jeder Leistungssphäre des tierischen Körpers ein von außen kommender Einfluss, der an sich geeignet ist, eine bestimmte funktionelle Reaktion auszulösen, bei wiederholter Einwirkung, unter sonst gleichbleibenden Bedingungen seiner Form und Masse, allmählich an Wirkung evtl. bis zum Versagen verliert.

      Allenthalben im körperlichen Leben begegnet man diesem Ereignis. Wenn durch Druck auf eine Hautstelle, z. B. beim Rudern, Schmerzen und örtliche Veränderungen entstanden sind, so wird, falls sich die wirkende Ursache häufig wiederholt, nach und nach eine Abstumpfung derart eintreten, dass die gleiche Summe der mechanischen Leistung kaum noch empfunden wird und weiterhin örtliche Veränderungen ausbleiben. Dies kann, braucht aber nicht einmal die Folge von Schwielenbildung zu sein. Die sensiblen Nerven können, auch ohne dass eine Schwiele sie schützt, gegen die bezeichnete Art von Insult eine mindere Empfindlichkeit erlangt haben. So sah ich wiederholt, dass Gärtner, die speziell mit Kakteen arbeiteten, bei der Hantierung mit Mamillarien oder Echinokakteen an den Händen viele eingedrungene Stacheln trugen, ohne sonderlich dadurch belästigt zu werden, während bei einem nicht daran Gewöhnten schon ein einzelner infolge seiner Stechwirkung das lebhafte Bedürfnis nach Entfernung erregt.