Phantastica. Lewin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lewin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783940621771
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dienen sollten, für eine gewisse Zeit einen Zustand von Euphorie, von Behagen, von erhöhtem, subjektiv angenehmem Wohlbefinden hervorzurufen. Solche Kräfte fanden sie in alkoholischen Getränken und einigen sehr wenigen Pflanzenstoffen, den gleichen, die auch heute noch für den genannten Zweck gebraucht werden.

      Kein modernes chemisches Bemühen war bisher imstande, irgend etwas auf synthetischem Wege zu finden, was dem in rätselhafter Weise von den Völkern aller Erdteile als zweckmäßig für ihre euphorischen Wünsche erkannt gewordenen Material auch nur im entferntesten an Wirkungen gleichkäme. Die potentielle Energie der letzteren hat die Erde erobert und über scheidende Gebirge und trennende Meere hinweg die Verbindung zwischen Völkern hergestellt. Die Genussmittel dieser Art sind das einigende Band zwischen Menschen entgegengesetzter Hemisphären, zwischen Zivilisation und Unzivilisation geworden und sie haben, seit sie die Menschen in ihren Bann schlugen, sich Wege für ihr Vordringen gebahnt, die, einmal eröffnet, auch für andere Zwecke begehbar geworden sind. Sie gestalteten sich zu Kennmarken, die, in Völkern zurückgeblieben, einen auch sehr weit zurückliegenden wunderbaren Wechselverkehr unter ihnen so sicher diagnostizieren lassen, wie der Chemiker an einer chemischen Reaktion die innerlichen Beziehungen zweier Stoffe zu erschließen vermag. Der unbewusste Kontakt, der [8] sich durch die Verbreitung solcher Mittel zwischen ganzen Völkerreihen eines Erdteils vollzogen hat, erfordert wohl stets Jahrhunderte oder Jahrtausende. Die Völkerkunde hat, worauf ich mehrfach schon hinwies, ein besonders großes Interesse daran, diesen Berührungswegen nachzugehen, hat aber nie den Versuch gemacht, die Elemente für die Rückverfolgung der hier auftauchenden wissenschaftlich und für die Menschheitsgeschichte so bedeutungsvollen Fragen zu suchen. Und doch würde sich bei eingehendem Forschen mancherlei, zumal mit vergleichend linguistischer Hilfe, finden lassen.

      Schon das Finden der Eigenschaften erregend oder betäubend wirkender Stoffe und deren Verwendungsart stellt ein gewisses naturwissenschaftliches, durch praktische Beobachtung gewonnenes Erkennen und damit ein Stückchen vom Anfang von Kultur dar, das höchst beachtenswert ist. Und wenn es als ein Symptom von Zivilisation bezeichnet werden darf, dass nackte Bedürfnislosigkeit einem gewissen größeren Maß von Begehren weicht, dass das Individuum mit der primitiven, rohen Leibesnahrung, die ihm zuwächst oder die es sich erkämpft, nicht mehr zufrieden, Reizmittel, vor allem für sein Nervensystem, findet oder erhält und liebgewinnt, dann müssen auch in seiner Organisation die zeitlichen Bedingungen für ein solches körperliches Begehren, mindestens aber für das Lustgefühl, das es durch Erfüllung derselben empfindet, vorhanden sein.

      Mehr als der reine Tatsachenstoff, der über solche Substanzen geliefert werden kann, interessieren den Denkenden die Beweggründe, die zu ihrem Gebrauche und Fortgebrauche veranlassen. Hier vereinen sich ja alle möglichen menschlichen Gegensätze: Unkultur und Kultur und deren Ab[9]stufungen in materiellem Besitz, Lebensstellung, Wissen, Glaube, Alter und Veranlagung in Körper, Geist und Seele.

      Der in starre Frone gebannte Tagesarbeiter begegnet sich hier mit dem von Nahrungssorgen freien, sorgenlos von seinem Besitz Lebenden, der Regierende mit dem Regierten, der Wilde irgendeines fernen Eilandes oder des Kongowaldes oder der Kalahari- oder Gobiwüste mit Dichtern, Denkern, Männern der strengen Wissenschaft, mit Gesetzgebern, Staatenlenkern, Menschheitsverbesserern und Misanthropen, der friedlich Gesinnte mit dem Streitsüchtigen und der Religionslose mit dem Frommen.

      Es müssen gewaltige und eigenartige körperliche Antriebe sein, die derart einigend wirken, dass sie so unübersehbar viele Varietäten von Menschen des Erdenrundes in ihren Bann zu schlagen vermögen. Mancher hat sich über sie geäußert, sehr wenige sie in ihrer Gesamtheit übersehen und ihre Wesenheit verstanden. Und noch weniger verstanden sie die inneren Zusammenhänge der Stoffe, in denen jene eigenartigen Energien lagern und die Beweggründe zu ihrem Gebrauch.

      So meinte man, dass, je tiefer ein Volk auf der Leiter der geistigen Fähigkeiten stehe, um so gröber die ihm angenehmen Reizmittel seien und um so mehr würde es suchen, durch sie sich um sein Bewusstsein zu betrügen und sich von der dumpf gefühlten inneren Leere zu befreien.8 Ein ungewisses Ahnen eigener unverbesserlicher Unvollkommenheit im drückendsten Grade umfange z. B. die Indianer Südamerikas und deswegen eilten sie, von solchem melancholischen Mißgefühl durch heftige Aufregung sich zu befreien, d. h. durch den Gebrauch von Koka und anderen Stoffen.

      Ja, Männer, die, wie Tolstoi, unfähig waren, in diese Fragen einzudringen, gingen auch in unserer Zeit so weit, als Ursache des Rauchens und Trinkens eine Betäubung des Gewissens und für den Gebrauch des Opiums im malayischen Archipel eine ,,ungenügende Erziehung auf christlicher Grund [10]lage“ heranzuziehen. Solchen unglaublichen Absurditäten begegnet man allenthalben reichlich. Sie sind geeignet, einerseits Erstaunen über die Mängel an Tatsachenkenntnis und des Urteils über den Menschen und seine Triebe hervorzurufen und andererseits den dringenden Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, dass mehr Erkenntnis über die hier in Frage kommenden Probleme in weiteren Kreisen geschaffen würde.

      Die mächtigste Triebfeder für die häufige oder die Alltagsverwendung der hierher gehörenden Stoffe liegt in ihren Eigenschaften selbst, in ihrer Fähigkeit, in bestimmter Art und mehr oder minder lange die Funktionen der Lust- bzw. Annehmlichkeitsempfindungen vermittelnden Stellen im Großhirn wachzurufen und die Erinnerung an die empfundenen Gefühle in irgendeinem Umfange wachzuhalten. Die Wirkungsunterschiede zwischen den einzelnen sind groß. Selbst innerhalb der beiden großen Gruppen von Wirkungsmöglichkeiten, nämlich der Erregung und der Lähmung, schwanken die Erscheinungsformen ihrer Energieentfaltung. Sie stellen sich als mehr oder weniger abgestimmt und adäquat dem zeitlichen Zustand des Nervensystems des sie Einführenden dar.

      Ebenso verschieden sind die ersten Veranlassungen, zumal für die betäubend wirkenden Mittel. Mag es nun aber die nackte, grundlose Nachahmung sein, die ja auf der Welt so viel närrisches oder verderbliches Tun veranlasst und für manche Menschen als dauerndes Zugpflaster für ihre Neugierde bis zur endlichen Erfüllung wirkt oder das Erkannthaben ihrer euphorischen Wirkung, als das Individuum sie als Arznei zu nehmen genötigt war oder die bewusste Absicht, eine angenehme zeitliche Zustandsänderung seiner selbst herbeizuführen, in eine andere Bahn des Denkens und Empfindens zu kommen, z. B. das zu erreichen, was einst ein Indianer in Guatemala, den man fragte, warum er soviel Aguardiente, d. h. Schnaps, trinke, ge[11]antwortet hat: Der Mensch müsse manchmal „zafarse de su memoria“, d. h. sich vor seinem Gedächtnis Ruhe schaffen – immer ist es die Reaktion der oft zauberhaften, manchem der Mittel eingeborenen Kraft auf das Gehirn, die alles weitere veranlasst, was sich danach im Körper von dem bis zur Sehnsucht anschwellenden Verlangen des Weitergebrauches an bis zu den dadurch veranlassten krankhaften Störungen abspielt.

      Ich sah Männer, die zuerst aus Neugierde ein narkotisches Mittel nahmen und von der Wirkung desselben erfasst, zu Gewohnheitsgebrauchern desselben wurden. Verderbliche Popularisierung von Wissensstückchen über die Eigenschaften solcher Stoffe schuf und schafft Adepten in verhängnisvollem Umfange. Davon weiß die neueste Zeit zu klagen, in der die Narkomanie zu einer ungeahnten Höhe anschwoll – so hoch, dass selbst diejenigen, die in Bezug auf die Verbreitung solcher Leidenschaften Pessimisten waren, davon überrascht worden sind.

      An mich wandten sich Männer mit nicht ganz unbekanntem Namen um einen Stoff zu erhalten, von dem sie erfahren hatten, dass er auffällige Sinnestäuschungen, Trugwahrnehmungen erzeuge. Sie hofften, von den letzteren angenehme Empfindungen zu erhalten, ja, einer meinte, sie sogar für dichterische Produktionen etwa höherer Ordnung verwerten zu können.

      Und so könnte noch mancher andere Umstand als erster Veranlasser des in die Alltagsgewohnheit eintretenden Gebrauches betäubender oder erregender Mittel angeführt werden, denn das Leben und nur die Einzelleben mit ihren unübersehbaren zahlreichen, theoretisch gar nicht auszudenkenden Gestaltungsmöglichkeiten schaffen jene so oft überraschenden, für das Einzelindividuum entscheidend werdenden Ursachen für Normalsein, Kümmerlichsein oder Nichtsein.

      [12]