Phantastica. Lewin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lewin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783940621771
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übernommen wurden.

      Lewin konnte diese geringe Würdigung seiner Forschungsleistung jedoch nicht lange schätzen. Nur fünf Jahre später erlag er den Folgen eines Schlaganfalls. Dadurch blieben ihm zumindest die Demütigungen, welche die jüdische Bevölkerung während des Nationalsozialismus erleiden musste, und damit das Schicksal seiner Frau Clara, die 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt starb, erspart.

      Louis Lewin stellte sein Leben in den Dienst der Wissenschaft und leistete dadurch Pionierarbeit in der Drogen- und Arzneimittelforschung. Das Herausragende an seiner Leistung wird in der „Phantastica“ deutlich. In dieser Drogenenzyklopädie stellte Lewin erstmals Wirkung und Nebenwirkung verschiedener bewusstseinsverändernder Stoffe dar und zeichnete zudem die Geschichte des Drogenkonsums sowohl im eigenen Kulturkreis als auch in fremden Kulturen nach. In der Lewinschen Neuschöpfung des Begriffs „Phantastica“ benannte der Forscher fünf Gruppen von Genussmitteln, die er anhand ihres Wirkungsverlaufs von einander trennte. Zu unterscheiden waren für Lewin „Erregungs-“, „Sinnestäuschungs-“, „Berauschungs-“, „Schlaf-“ und „Seelenberuhigungs- mittel“. Mit einem wortreichen und gewaltigen Sprachduktus berichtete Lewin von Vorkommen und Wirkungen der „phantastischen Stoffe“, die teilweise – wie im Falle des Kaffees – nützliche Reaktionen, teilweise jedoch auch – wie am Beispiel des Kokains – verheerenden Folgen haben können. Lewin verklärt den Drogenkonsum damit in seiner Enzyklopädie nicht, sondern stellt auch die häufig beängstigenden Bilder der Abhängigkeit dar und lässt so seine dringliche Warnung vor dem Gebrauch bestimmter Stoffe verlauten.

      Der Sprachstil des Chemikers gepaart mit den oft amüsanten Anekdoten zur Kulturgeschichte des Drogenkonsums erheben die „Phantastica“ zu einem Werk, das einen wissenschaftlichen Anspruch mit Leselust und Spannung vereint. Die Modernität und Fortschrittlichkeit Lewins in seiner „Phantastica“ ist noch heute, fast ein Jahrhundert nach ihrem Erscheinen, von bestechender Aktualität.

       Vorwort.

      Eine innigere Beziehung zum Leben der gesamten Menschheit haben, wenn man von Nahrungsstoffen absieht, keine von den unzählbaren chemischen Stoffen der Welt, als diejenigen, deren Geschichte und Wirkungen in diesem Werke zur Darstellung gebracht worden sind.

      Ich gab ihm den Namen Phantastica, obschon unter diesen von mir formulierten Begriff nicht alles das fällt, was ich im engeren Sinne darunter verstanden wissen will. Aber fast allen hierher gehörigen Stoffen ist eine direkte Gehirnwirkung eigen, die in allen ihren Gestaltungen rätselhaft, unbegreiflich ist.

      Ist in der belebten Natur der Wunder vielleicht größtes die Empfindung, so lässt der Versuch, pharmakologisch in das Gebiet der betäubenden und erregenden Stoffe einzudringen, dieses Wunder noch bedeutsamer erscheinen, weil hier der Mensch es vermag, das Alltagsempfindungsleben samt Willen und Denken durch chemische Stoffe, auch bei freiem Bewusstsein, in ungewohnte Formen zu wandeln oder den normalen Empfindungen Leistungshöhen und Leistungsdauer zu geben, die dem Gehirn sonst fremd sind. Chemische Stoffe sind es, die derartiges bewirken können. Die besten [2]von ihnen bildet das gewaltige Pflanzenreich, in dessen stillstes Wachsen und Schaffen menschliches Auge und Forschen noch nicht gedrungen sind. Werden sie auf das Gehirn übertragen, so rufen sie dort Wunder an energetischen Äußerungen wach. Sie machen den seelisch Gepeinigten lastfrei, den Schmerzdurchwühlten oder den dem Tode Geweihten hoffnungerfüllt, dem durch Arbeit Geschwächten geben sie neue Leistungsimpulse, die auch ein starker Wille nicht zustande brächte und dem nach der Arbeit weltscheu und stumpf Gewordenen eine Stunde innerlichen Behagens und Zufriedenseins.

      Und alles dieses vollzieht sich auf der gesamten Welt durch einen oder den anderen dieser Stoffe bei allen, die im Besitze derer sind, nach denen sie Begehren tragen. Und sie sind es: Im Urwaldwinkel, wo ein Blätterbehang die kümmerliche Unterkunft bildet, wo auf meerumtobtem Eiland Menschen einen Zuwachs an zeitlich höherer Lebensintensität erwünschen oder ohne Wunschbedürfnis erhalten, wo auf fernen Bergeshöhen der Einsame von dem dumpfen, nicht zum Bewusstsein kommenden Gefühl seiner äußerlichen und innerlichen Lebensbeschränktheit bedrückt, das niedrige Einerlei seines Vegetierens durch Erregungsmittel belebter zu machen vermag oder wo Menschen der Zivilisation aus einem der vielen möglichen Gründe eine solche zeitliche, subjektiv angenehme Zustandsänderung ersehnen. Die Zauberkraft der betäubenden und erregenden Mittel versagt nie.

      Weit strahlt die Bedeutung dieser Stoffe aus. Sie führen bei den Einen in die dunkelste Nachtseite menschlicher Leidenschaft, die schließlich in sittliche Ohnmacht, Verkommenheit und körperliches Elend ausklingt, bei den Anderen in fernerleuchtete Freudenstunden oder in gemütvolle und beschauliche Geisteszustände.

      Neben diesen die ganze Menschheit als Beteiligte interessierenden Seiten bieten diese Stoffe ein sehr hohes wissenschaftliches Interesse für den Arzt, zumal [3] den Psychiater und den Psychologen, sowie für den Juristen und Ethnologen. Variationen des geistigen Sehens und Empfindens, die tangential oder, mehr als dies, an geistige Erkrankung heranrücken, können die Folgen des zu starken Gebrauches einiger solcher Stoffe sein. Psychoanalytisch, im wissenschaftlichen Sinne, wird hier die Möglichkeit besserer Wesenheitserkenntnis gewisser, auch in Geisteskrankheiten vorkommender seelischer Vorgänge gegeben. Hier bietet sich der Psychologie ein weites Arbeits- und Erkenntnisfeld dar, dessen Gatter bisher nur ganz vereinzelte Forscher hat eintreten lassen. Der Jurist soll in den hier für ihn auftauchenden Fragen über Verantwortlichkeitsbreite, Handlungsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit von Menschen orientiert sein, die, unter dem dauernden Einfluss zumal von betäubenden Stoffen stehend, Anlass geben, dass man sich mit ihnen zivilrechtlich oder strafrechtlich beschäftigt. Für den Ethnologen bieten Verbreitung und Gründe des Gebrauches solcher Stoffe nach vielen Seiten hin und nicht zum mindesten in bezug auf die religionsphilosophische, überaus viele und für neue Aufklärungen vielversprechende Probleme dar. Ich habe der Anregungen für neue Forschungen in diesem Buche genügend gegeben. Ich ließ es frei von belastendem literarischen Rankenwerk, um die pharmakologische Auffassung klarer hervortreten zu lassen und gab doch genug für die sachliche und historische Orientierung.

      „Es gibt in der gesamten Pharmakologie kaum ein schwierigeres Kapitel als eine erschöpfende und nach allen Richtungen zutreffende Analyse der Wirkungen der Genussmittel.“ Dieses Wort eines Pharmakologen ist wahr. Ich habe, nachdem ich im Jahre 1886 die ersten, auch chemischen, Untersuchungen über ein solches Genussmittel, die Kawa, kundgab, die so umfangreich nutzbar geworden sind, nicht aufgehört, an diesen Fragen zu arbeiten und manches in meinen Schriften folgen lassen. Dieses Werk, das erste [4] seiner Art, soll nicht nur die Ergebnisse meiner pharmakologischen Auffassungen widerspiegeln, die auch durch das Viele gestützt sind, was ich, in stets sehr lebendigen Beziehungen zur Wirklichkeitswelt, selbst gesehen oder Hilfesuchende mir unterbreitet haben, sondern auch belehrend und aufklärend für jene Hunderttausende wirken, die in dem wogenden Kampfe der Meinungen über betäubende und erregende Genussmittel sich einen klaren Blick über die Bedeutung derselben verschaffen wollen.

      Nachdem die erste Auflage dieses Werkes in so kurzer Zeit in vieler Menschen Hände gekommen und überreich mit Zustimmung und Lob bedacht worden ist, folgt ihr die neue, von dem gleichen Geiste getragene und nur im Tatsachenstoff erweiterte. Erneut wird die Menschheit auf das hier dargelegte große Problem hingewiesen, das nicht im schnellen Ansturm gelöst werden wird und gelöst werden kann. Ändernwollen und Ändernmüssen bedürfen sehr viel Zeit zu ihrer Erfüllung, weil übergroße Hemmnisse, die ihre weitverzweigten und mächtigen Wurzeln nicht nur in menschlicher Leidenschaft haben, sich ihnen entgegenstellen. Aber jeder, auch der kleinste Schritt des Vorrückens in der Abwehr von Schädigung des Menschengeschlechts stellt einen wahren Segen dar.

      Berlin,

      im Sommer 1924,

      im Frühling 1926.

      Louis Lewin.

      [5]

      Einleitung.

      [7]

      Seit Kunde von Menschen