Phantastica. Lewin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lewin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783940621771
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allmähliche Gewöhnung an steigende Dosen erreichbar ist. Es sieht fast so aus, als ob nicht nur in einzelnen Tierklassen, sondern auch bei Menschen derartiges vorkommen könne, z. B. in Bezug auf das Unterbleiben von Wirkungenbei solchen, die in großen, gefährlichen Epidemien den Umständen nach Krankheitsstoffe in sich haben aufnehmen müssen und dennoch gesund geblieben sind. Ich habe mich jedoch bisher nicht davon überzeugen können, dass bei Menschen eine Immunität von vornherein für bekannte chemische Gifte bestände. Wo man glaubte, eine solche an[37]nehmen zu dürfen, waren es wohl, wie z. B. bei der Einwirkung giftiger Gase, äußere Umstände, die auf das Nichtentstehen von Vergiftung bestimmend wirkten oder es handelte sich um Mengen, die nicht ausreichten, um bei den Betreffenden, Unterempfindlichen, akute, in die Augen fallende Störungen hervorzurufen. Solche hochgradigen Unterempfindlichkeiten, wie sie z. B. für Äthylbromid, Äthylchlorid, Chloroform vorkommen, sind nicht den Immunitäten gleichzusetzen, die man bei manchen Tieren gegenüber Giften wahrnehmen kann, die unter allen Umständen bei Menschen Wirkungen zu veranlassen geeignet sind. In der Organisation solcher Tiere müssen in dieser Beziehung bestimmende Eigenheiten liegen, die sie manche Gifte – soweit dies erkennbar ist – unbeschadet aufnehmen lassen.

      Von dem Igel, der bisher als ein in mancher Beziehung „giftfestes“ Tier gegolten hat, erbrachte ich den Nachweis,16 dass er in der Tat z. B. große Mengen von spanischen Fliegen oder Kreuzottergift verträgt, dass diese Widerstandskraft jedoch nur eine relative ist. Ja, die Kreuzotter selbst erwies sich in meinen Versuchen nicht absolut immun gegen ihr eigenes Gift, sondern nur in einem bestimmten Mengenverhältnis. Außerdem zeigte sich bei ihr unter solchen Umständen eine beträchtliche Wirkungsverzögerung.

      Auf diesem Gebiete gibt es jedoch so bestimmte weitere Beobachtungen auch über absolute Immunitäten gegen starke Gifte, dass man – die Richtigkeit vorausgesetzt – annehmen muss, dass dann eben bei solchen Lebewesen die Angriffsflächen dafür so anders als bei anderen Tieren und Menschen sind, dass eine toxische Reaktion nicht auslösbar ist. So wirkt z. B. Mucor rhizopodiformis, ein Schimmelpilz, auf Kaninchen giftig ein, auf Hunde gar nicht. Das Weizenälchen, Tylenchus tritici, lebt in Glyzerin vortrefflich und [38] Belladonna, Morphin, Atropin, Strychnin sind für dasselbe unschädlich. Dagegen geht es durch Metallsalze, Säuren und Alkalien zugrunde. Enten, Hühner und Tauben werden durch innerlich gereichtes Opium nicht vergiftet. Der Nashornvogel frisst die Samen von Strychnos nux vomica, Mäuse die des Taumellolches, Amseln Tollkirschen, Meisen die Samen von Stechapfel, Staare die Schierlingsamen, Kaninchen und Meerschweinchen Blätter und Früchte von Belladonna,17 Kühe, Schafe, Schweine angeblich Bilsenkraut, Schnecken Belladonnablätter, die Larve von Deϊopeϊa pulchella nährt sich von der sehr stark giftigen Calabarbohne, die Raupen von Ornithoptera darsius von einer giftigen Aristolochia, deren Gift sich, wie es scheint, dem Schmetterling mitteilt, die Oleanderraupe frisst die giftigen Oleanderblätter und Cimex hyoscyami die Bilsenkrautblätter. Wildschweine sollen begierig die Farnwurzel fressen, Kaninchen gegen Haschisch refraktär sein und Pferde in Guadeloupe begierig die bei Menschen Entzündung erzeugenden Blätter von Rhus Toxicodendron aufnehmen. Ziegen und Schafe verzehren im Kaukasus Veratrum, die Nieswurz, während Pferde und Kühe dort dadurch Giftwirkungen bekommen.

      Zu solchen Rätseln gehört auch das Verhalten mancher Tiere gegen niedere Temperaturen. Kann doch der Gletscherfloh, Desoria glacialis, nicht nur auf den Firnfeldern umherspringen, sondern sogar wochen- und monatelang bei – 110 einfrieren, ohne an Lebensenergie einzubüßen, was im Flachlande auch der Schneefloh, Degeeria, kann. Und dabei bestehen sie doch aus Eiweiß! Andererseits vertragen die gewöhnlichen Flöhe nicht das Klima von Feuerland und gehen, dorthin eingeführt, zugrunde. Welche Annehmlichkeit für die Feuerländerinnen!

      [39] Allenthalben auf diesem großen Gebiete, der Reaktivität, der Nichtreaktivität und der Andersreaktivität von Lebendem auf körperfremden oder körperheimischen Einfluss starren uns unlösbare Lebensrätsel entgegen. Sie zu lösen ist unmöglich, sie in ihren wechselvollen Äußerungsformen kennen zu lernen notwendig. Die auf die betäubenden und erregenden Genussmittel sich beziehenden gehen alle Menschen, auch diejenigen von selbstzufriedener Gleichgültigkeit, an. Sie gehören zu den Weltfragen, an deren Beantwortung ein jeder der Beteiligten – und wohl alle Menschen sind daran beteiligt – automatisch oder bewusst teilnehmen muss.

      [41]

      Die Betäubungsmittel.

      [43]

      Die Stoffe, denen Wirkungen zukommen, wie ich sie zuvor allgemein geschildert habe, lassen sich in verschiedene Gruppen einteilen, die zwar nicht scharf voneinander trennbar sind, aber doch Unterschiede in der Wesenheit ihrer energetischen Fähigkeiten bzw. deren Äußerungs- und Verlaufsart aufweisen. Es ist ohne weiteres verständlich, dass bei einer Beeinflussung des Gehirns, mit einer verschiedenen reaktiven Wertigkeit einzelner seiner Teile auch in Bezug auf scheinbar gleichartig wirkende Stoffe gerechnet werden muss. Selbst wenn man willig zugibt, dass die scheinbare Gleichartigkeit der letzteren in Wirklichkeit nicht besteht und nur aus Mangel an Erkennungsmöglichkeit den Eindruck der Wirkungsgleichartigkeit macht, so bleiben noch genug toxikologische Erfahrungstatsachen übrig, die dafür sprechen, dass der feinere chemische Bau einzelner Gehirnteile nicht summarisch als überall übereinstimmend gleich aufgefasst werden darf. Es müssen in ihnen neben quantitativen auch qualitative chemische Unterschiede sowohl in der weißen als auch der grauen Gehirnsubstanz bestehen. Die bisherigen chemischen Untersuchungen sagen darüber herzlich wenig aus. Sie stellten z. B. fest, dass in der grauen Substanz die Menge des Eiweißes und der Leimbildner mehr als die Hälfte und in der weißen etwa ein Viertel der organischen Stoffe beträgt, die Menge des Cholesterins und der Fette in der grauen nur den dritten Teil und das Cerebrin etwa den zwanzigsten Teil so groß wie in der weißen Substanz ist usw. [44] Selbst wenn die genannten und andere Stoffe wirkliche Bestandteile und nicht Zersetzungsprodukte wären, so gäben sie nur über den chemischen Bau des toten Gehirns, aber nicht über denjenigen seiner Teile und gar nicht über die funktionierenden Stoffe des lebenden Auskunft. Bestehen, wie ich annehme, Unterschiede, dann ließe sich verstehen, warum an das Gehirn gelangende chemische Stoffe in dessen einzelnen Gebieten verschiedenartige oder verschieden starke Wirkungen auslösen. Cholesterin, Phosphartide, Kephalin, Cerebroside sind nur Namensbezeichnungen für Stoffe, deren kausale Beteiligung weder an normalen noch krankhaften Betriebsvorgängen im Gehirn zu verstehen ist.

      Unterschiede auch in den Lebensbedürfnissen verschiedener Gehirngebiete erschließe ich aus manchem Vergiftungsvorgange. So ist es z. B. bisher ganz unmöglich gewesen auch nur näherungsweise zu verstehen, weshalb als Folge der Kohlenoxidvergiftung mit Vorliebe die

      basalen Ganglien, vor allem der Streifenhügel aber auch der Linsenkernen, der Seehügel und die Vierhügel betroffen werden. Die nächstliegende Annahme würde dahin gehen, bei diesen Gehirnteilen ein erhöhtes Bedürfnis nach sauerstoffhaltigem, unverändertem Blut vorauszusetzen, dem durch kohlenoxidhaltiges nicht genügt werden kann – nebenher vielleicht aber auch eine erhöhte chemische Reaktionsfähigkeit auf Stoffe, die aus Zersetzungsvorgängen in den genannten, in ihrer Ernährung gestörten Teilen selbst stammen.

      Unterschiede in der Reaktionsfähigkeit einzelner Gehirnteile oder Punkte gegenüber gewissen chemischen Stoffen ergeben sich auch bei der Betrachtung des Verhaltens, z. B. des verlängerten Markes zu narkotischen Stoffen. Während die Zentren der Großhirnrinde auf solche schnell mit Ausfall von Funktionsstückchen reagieren, verlangt das Atmungszentrum für Funktionsänderungen viel mehr Zeit und wirkende Masse. Als Ursache eines so verschiedenen Verhaltens [45]ist nicht allein die Höhe der der wirkenden Dosis anzusprechen, denn wenn auch das Massenwirkungsgesetz in Bezug auf Wirkungen von Arzneistoffen und Giften in einer gewissen Breite fraglos Geltung hat, so ist diese doch nicht mit derjenigen in Vergleich zu stellen, die sie in der Chemie besitzt.

      Zu den konstanten reaktiven Äußerungen des Gehirns auf narkotische Stoffe gehört eine primäre Erregung. Ich betrachte es als eine allgemeine biologische Regel, dass eine Funktionsminderung irgendeines körperlichen Organs voraufgegangen wird von einer Funktionserhöhung,