Phantastica. Lewin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lewin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783940621771
Скачать книгу
und der Überwindung des ihr wesensfremden, auf sie feindlich, reizend oder lähmend wirkenden Stoffes sich allmählich mindern. Jede neue Dosis findet eine Wirkungsbasis von minderer funktioneller Reaktionsfähigkeit vor. Um sie auf ein erforderliches Niveau zu heben, muss eine fortschreitende Steigerung des wirkenden Fremdstoffes erfolgen. Der Vorgang der Abstumpfung der Zellenergie wiederholt sich immer wieder von neuem, bis schließlich bei einer gewissen Dauer des ganzen Prozesses und einer bestimmten, individuell verschiedenen Menge des aufgenom[32]menen Stoffes die Lebensvorgänge in der Zelle nur noch ausreichen, um zu vegetieren, d. h. sich zu ernähren, aber weder genügen für die Abwehr bzw. die Regulation der ihr dauernd zugefügten Leistungsschädigung noch für eine normale physiologische Tätigkeit einschließlich der Aufrechterhaltung der notwendigen Wechselbeziehungen zu andersartigen Organen des Körpers.

      Mithin beruht nach meiner Auffassung die Gewöhnung an Arzneimittel und Gifte, die ich als rein vitale Funktion ansehe, nicht auf einer erhöhten Leistungsfähigkeit, sondern auf einer progressiv zunehmenden, wahrscheinlich durch chemischen Einfluss bedingten Schwäche des Zelllebens. Die Adaptation ist die erworbene Unfähigkeit, auf eine bestimmte Summe von Reiz in normaler Weise zu reagieren.

      Durch diese wehrlose Schwäche, als Produkt der allmählichen Anpassung, wird in gewissen Grenzen eine Immunität für die Giftwirkung des Reizmittels erlangt. Wird durch ein Übermaß des Mittels die Toleranzzone weit überschritten, so treten Giftwirkungen wie bei Nichtgewöhnten ein: die vegetative Sphäre der geschwächten Zellgruppen wird in ihrer Existenz bedroht und dann geraten auch Funktionen anderer in Unordnung, die von ihnen, auch regulatorisch, beeinflusst werden. Es besteht ja in gesundem Zustande ein inniger, harmonischer, funktioneller Zusammenhang der Körperorgane untereinander. Das normale Verhältnis lässt sich vielleicht als das einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung auffassen, in der zwar die einzelnen Gesellschafter eine verschieden große Wertigkeit haben, die aber trotzdem die zweckmäßige Zusammenarbeit aller mit dem auf die Erhaltung normaler Gesamtlebensfunktionen gerichteten Ziel einschließt. Leidet ein Verpflichteter von ihnen, so werden andere in Mitleidenschaft gezogen, versuchen auch bis zu der Grenze [35] ihrer Leistungshöhe für ihren Teil den vorhandenen primären Schaden auszugleichen, gehen dann aber nicht selten, bei dem Versagen ihrer Kraft, ihre eigenen, ihnen vorgeschriebenen Leidenswege. Das Gesellschaftsband ist in irgendeinem Umfange zerrissen und schwer oder nie wieder verknüpfbar. Solche Abhängigkeitsleiden können sich bei jeder krankhaften Störung aus irgendeiner Ursache herausbilden und schlimmer werden als das primäre Leiden.

      Wird dem durch Gewöhnung funktionell anders gewordenen Organ, z. B. dem Gehirn, das verursachende Mittel in irgendeinem Umfange entzogen, so wird dadurch der bisher künstlich aufrechterhaltene Gleichgewichtszustand im Ertragen des fremden Einflusses und der Funktion in allen ihren Ausstrahlungen gestört. Das Zelleben war auf das Mittel eingestellt oder wurde von ihm beherrscht und so tritt, wenn es fehlt, Verlangen danach ein. Es erinnert dies an den Salzhunger, den man bei langer Enthaltung dieser Substanz hat. So wie diese als notwendiger Bestandteil des Körpers eingeführt werden muss, so werden auch gewisse narkotische und sogar gewisse nichtnarkotische Mittel durch den gewohnheitsmäßigen Gebrauch für das Gehirn gewissermaßen zu integrierenden Bestandteilen und ihr Fehlen wird so wie der eines elementaren Körperbestandteils empfunden. Man könnte auf diese Weise sagen, das Morphin z. B. werde für einen Morphinisten zu einem Hormon. Es tritt in die Körperverwandtschaft ein. Es wird, wie Galen14 es ausdrückte, „ούμφυτον“.

      So konnte ein Mann vier bis sechsmal täglich drei Jahre lang 0,1– 0,2 g Chininsalz sich auf die Zunge schütten und ohne Wasser zu trinken, verschlucken. Nach dem Grunde dieses eigenartigen Verlangens gefragt, gab er an, dass er die Wirkung des Mittels liebe. Wenn er es zu nehmen aufhörte, würde er verworren und könnte seinen geschäftlichen Pflichten nicht mehr ordentlich nachkommen. Und [34] so ist es wahrscheinlich jenem alten Weibe ergangen, von dem Galen angab, dass es sich nach und nach an „Cicuta“, d. h, an den gefleckten Schierling – wohl nicht an den Wasserschierling – gewöhnt habe und so gewöhnten sich sogar die Völker, welche die Spanier auf der Küste von Paria trafen, an den Ätzkalk, mit dem sie ihre Geschmacksorgane reizten, wie es heute noch die Goajiros an der Mündung des Rio la Hacha und Andere tun. Ein Entbehren dieses Reizmittels ruft Störungen in ihrem Allgemeinbefinden hervor.

      Ob die Zellwirkung solcher Stoffe mit deren Bindung in der Zelle zusammenhängt15und ohne eine solche nicht denkbar ist, darüber kann man nur Vermutungen hegen. Ich sehe eine Notwendigkeit einer solchen Annahme nicht ein, zumal gerade für die hauptsächlich hier in Frage kommenden narkotischen Stoffe, wie Morphin, Kokain usw., die Bindungsfähigkeit mit dem Zelleib bisher in irgendeiner Ausdrucksform vergeblich gesucht worden ist. Aber selbst, wenn dies der Fall sein sollte, so würde es an meiner analytischen Auffassung des Vorganges nichts ändern; denn letzten Endes ist es für den Erfolg gleichgültig, ob Bindung durch den Zelleib oder vielleicht nur Kontaktwirkung vorliegt. Das Wesentliche liegt darin, dass die Zelle in die Abhängigkeit von einer solchen Substanz gerät. Die Abhängigkeit kann zwangsweise durch deren Entziehung aufgehoben werden. Sie wird dann im günstigsten Falle durch die Kräfte, die immer noch in ihr sind oder die sie durch das Leben neu erhält, funktionell so wieder zu sich kommen, wie ein Chloroformierter oder Ätherisierter, bei welchem Ganglienzellen der Großhirnrinde in ihrer Funktion zeitlich gemindert oder ausgeschaltet waren, nach dem Fortlassen des Mittels wieder in den Normalzustand gelangt. Trotzdem kann in der funktionellen Konstitution der Zelle eine gewisse allgemeine Um [35]stimmung erfolgt sein, die nicht weicht und sich bei irgendeiner Gelegenheit durch leichte Rückfälligkeit in ihr altes Abhängigkeitsverhältnis von einem solchen Mittel bemerkbar macht. Veranlassung hierzu gibt bei dem betreffenden Menschen, bei geeigneter Gelegenheit, meistens die Rückerinnerung an die Annehmlichkeitsgefühle, von denen er in der früheren Gebrauchszeit umfangen war. Die zurückgebliebene allgemeine Willensschwäche – auch eine Folge der Umstimmung des Zellebens gleich derjenigen, die die alten Lustgefühle noch lebendig sein lässt – kann dem erneuten Gebrauch keinen Widerstand mehr entgegensetzen und so erfolgt der Rückfall.

      Hier wirken materielle Einflüsse. Ähnlich liegen ja aber auch die Verhältnisse in dem rein seelischen Empfindungsleben. Die Liebe zu einem Weibe kann z. B. zu einer Leidenschaft ausarten, gegen die es keine Wehr gibt, die das Leben des Liebenden in Bezug auf Urteil Wille und Tun so in andere Bahnen lenkt, dass sogar natürliche Hemmungen ausgeschaltet werden. Die Anpassung an dieses andersartige, neue Gefühlsleben erfolgt, selbst wenn dem Individuum daraus Nachteile erwachsen, um so sicherer und fester, je häufiger der persönliche Eindruck des geliebten Gegenstandes zur Wirkung kommt. Wird das Weib als Veranlasserin eines solchen Zustandes unauffindbar dem Gesichtskreis des Liebenden entzogen, so bleibt gewöhnlich eine reizbare Schwäche zurück, die ihn seinem früheren Zustande nicht leicht gleich werden lässt. Er lebt in der Rückerinnerung, die auch wohl verblassen, aber erneut zu der alten Leidenschaft mit allen ihren Folgen aufflammen kann, sobald das Weib wieder in seinen Gesichtskreis gerückt ist.

      In Bezug auf die Annehmlichkeitsgefühle als Triebfedern des Gebrauches gibt es schon unter den einzelnen narkotisch wirkenden Stoffen weite Unterschiede. Sie sind die Ursache des größeren oder geringeren Verlangens danach. Der Grund solcher Verschiedenheiten ist exakt nicht angebbar. Wahr [36]scheinlich liegt er in feineren Unterschieden ihrer Reizqualitäten. Bis jetzt vermögen wir der Wirkung und der durch Gewöhnung erlangten allmählichen Anpassung an solche Stoffe nur funktionelle Äußerungen der Zelle zu erkennen, die letzten Endens als chemische aufgefasst werden sollten. Eine morphologische Veränderung an der Zelle war bisher sicher nicht zu erweisen. Wo Abweichungen im feineren mikroskopischen Gewebsbau von Gehirn und Rückenmark sich angeblich gezeigt haben, beruhten sie meiner Ansicht nach auf Beurteilungsfehlern. Selbst da, wo man im Experiment, z. B. bei der Gewöhnung an Hautreize, histologisch die betreffenden Hautstellen genau untersucht hat, fehlten pathologische Veränderungen. Narkotika zeichnen ihre Wirkungen, erkennbar, nicht in das Nervensystem ein. Trotzdem ist es möglich, dass Veränderungen vorhanden sind.

      Auf dem so vielgestaltigen Boden des Individualismus im weitesten Sinne des Begriffes erwächst bei bestimmten Lebewesen die Erscheinung einer deutlich angeborenen, bisweilen, dem Anscheine nach, absoluten Immunität gegen bestimmte Vollbringer