Phantastica. Lewin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lewin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783940621771
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solche Höhenanpassung trat in besonders deutlicher Weise bei den an dem Besteigungsversuch des Mount Everest im Jahre 1922 Beteiligten zutage. Anfänglich stellten sich Atemnot und Kopfweh und bei 5000 m Cheyne-Stokessche Atmung ein. Auf etwa zehn oberflächliche Atemzüge folgten einige, die allmählich tiefer wurden und in drei oder vier tiefen Zügen gipfelten, die sich dann wieder verflachten, bis die Runde von neuem begann. Nach mehrwöchentlichem Aufenthalt schwanden alle unangenehmen Erscheinungen. Die Schnelligkeit der Angewöhnung zeigte sich auch bei schwieriger Bergarbeit. Die Anpassungsfähigkeit dauerte schon nach wenigen Tagen in einer Höhe von 6400 m an.

      [27] Was im Anfange in Überwindung von Schwierigkeiten Kampf gekostet hatte, wurde dann zu leichter Verrichtung. So wurde es möglich, ohne Sauerstoff bis 8200 m vorzudringen. In dieser großen Höhe vollzog sich gleichfalls die Anpassung sehr schnell.

      Noch eine andere Erfahrung: In der Südbretagne ist die Luft so stark mit Salz getränkt, dass manche nach den ersten Tagen des Aufenthalts einen schmerzhaften, kolikartigen Zustand bekommen, der drei bis acht Tage andauert. Hat man ihn überstanden, so kehrt er nicht wieder.

      Es gibt kaum ein Gewebe des Körpers, das durch eine geeignete Behandlung nicht zu einer Toleranz gegenüber einem sonst schädlichen Einfluss gezwungen werden und kaum einen funktionsverändernden Stoff im weitesten Sinn des Begriffes, der durch Gewöhnung an ihn nicht teilweis oder ganz seine Wirkung an bestimmten Geweben verlieren kann.

      Nach meinen Versuchen scheint nur die Gruppe der den Blutfarbstoff verändernden Gifte und der Phosphor hierin eine Ausnahme zu machen.

      Die Anpassung der Gewebe vollzieht sich, wie ich schon hervorhob, meistens in größerem Umfange nur für ein gewisses äußeres Verhältnis oder für einen bestimmten Stoff, während sie für einen selbst ähnlich wirkenden fehlen kann. Modifikationen dieses Erfahrungssatzes kommen vor. Einreibung von Krotonöl in die Haut des Kaninchenohres ruft für einige Wochen eine Art von Immunität hervor, die sich darin äußert, dass nach vollständigem Ablauf der Entzündung die betreffende Stelle auf eine erneute Einwirkung desselben Reizes nicht mehr in der gleichen Weise, sondern erheblich schwächer reagiert. Es ließ sich ferner nachweisen, dass auch eine Vorbehandlung mit anderen entzündungserregenden Stoffen die Haut gegen das Krotonöl widerstandsfähiger macht und dass umgekehrt eine vorausgegangene Krotonölentzündung einen gewissen Schutz sogar gegen andere Entzündungserreger ge[28]währt. Die Reizgewöhnung, die auch ohne sichtbare entzündliche Veränderung zu erzielen ist, kann mehrere Wochen anhalten, dann aber nicht gleichzeitig gegenüber allen gewebsreizenden Einflüssen schwinden, sondern am längsten gegenüber demjenigen Reizstoff bestehen bleiben, an den die Haut systematisch gewöhnt worden war. Analoges fand man im Experiment an Menschen. Behandelte man Psoriasiskranke mit dem Reizstoff Chrysarobin in ganz allmählich steigender Konzentration, so wurden die betreffenden Hautstellen nicht nur gegen Chrysarobin weniger empfindlich, sondern auch gegen andere Reize, wie z. B. gegen Kantharidenpflaster und Krotonöl. Hierbei zeigte sich, dass die Toleranz gegen diese letzteren Stoffe bei einer Kranken schon wieder, verschwunden war, während die gegen Chrysarobin noch wochenlang anhielt.

      Experiment und praktische Erfahrung liefern in allen diesen Beziehungen die gleichen Ergebnisse. Hundert- und tausendfach lehren sie, wie seitens des Menschen an die verschiedenartigsten Einflüsse Anpassung durch Gewöhnung stattfinden kann und zwar soweit einzelne Organe, z. B. das Gehirn oder der Gesamtorganismus in Frage kommen, so dass auch wohl ein dafür geeigneter Mensch als Präservativ gegen Schlangengift oder Cholera – wie dies einmal in Ostasien beobachtet wurde – sogar die strychninhaltigen Samen von Strychnos Ignatii oder Strychnos nux vomica ohne Steigerung der Menge Jahr und Tag innerlich gebrauchen kann.

      Wie ist ein solches Verhalten zu erklären? Es leuchtet von vornherein ein, dass die jeweilig das Phänomen der Gewöhnung auslösende Ursache nicht auch den Grund der Gewöhnung abgeben kann, dieser vielmehr nur in dem betroffenen Individuum liegen muss. Schon fast 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung wurde ausgesprochen: „Von allen Arznei- und Giftpflanzen werden die Wirkungen durch Gewohnheit schwächer. Bisweilen werden sie dadurch ganz unwirksam. Die Natur des Menschen besiegt sie, als wären sie keine Gifte mehr.“ Hier wird der menschliche Körper [29] kraft seiner Organisation zum Zerstörer der Giftfähigkeit bzw. der Giftwirkungen gemacht. Anders etliche Jahrhunderte später Galen: Er erzählt, wie ein altes athenisches Weib sich dadurch an Schierling gewöhnt habe, dass sie, mit kleinen Mengen beginnend, zuletzt davon auch sehr große ungestraft hat nehmen können, weil ,,im Beginne die kleine Giftmenge nur durch ihre Kleinheit besiegt wurde, die Gewöhnung aber das Mittel zu einem natürlichen, verwandten machte“.10

      Mancherlei Vorstellungen über den letzten Grund des Geschehens bei der Gewöhnung, z. B. an Morphin oder an ähnlich wirkende Stoffe, sind möglich. Ich weise diejenige zurück, die darauf hinausläuft, es mehr als möglich sein zu lassen, dass nach Maßgabe der eingeführten Menge des Gewöhnungsstoffes sich im Körper ein in das Blutserum übergehendes Gegengift, ein „Antitoxin“, bilde, das nicht nur die betreffenden Individuen schütze, sondern sogar in so reicher Menge erzeugt werde, dass auch fremde, dessen bedürftige Menschen noch von der antitoxischen Eigenschaft eines solchen Blutserums Vorteil haben können – eine um so befremdlichere und unwahrscheinlichere Annahme, als ja ein chronisch vergifteter Zellkomplex trotz anfangs gewiss erhöhten Kraftaufwandes für seinen Selbstschutz, weiterhin stets dem Gifte erliegt.

      Tatsächlich haben aber nicht wenige und darunter auch meine eigenen Versuche bewiesen, dass eine Bildung von „Antitoxinen“ gegenüber Alkaloiden, Glykosiden, Stoffen aus der Fettreihe oder aromatischen Körpern oder unorganischen Stoffen nicht stattfindet. Es bildet sich kein Morphin- oder Kokain-Antitoxin im Blute und wenn ein angebliches „antitoxisch wirkendes Serum“ aus Tieren dargestellt worden ist, die mit einem dieser oder anderer Gifte chronisch ver[30]giftet wurden, so wolle man annehmen, dass es sich hier um eine unzulängliche Beobachtungskunst gehandelt habe, die auf keinem anderen Gebiete so wie gerade auf diesem Ereignis geworden ist. Der Spuk von Vermutungen verbreitet sich leicht infektiös und Nachbeter, deren die Welt voll ist, finden suggestiv das leicht, was sie glauben finden zu müssen, weil andere glauben, das Richtige gefunden zu haben. Falls irgendein „antitoxisches Serum“ bei einem Kranken einen zeitlichen symptomatischen Erfolg erzeugt, so ist es, was ich zuerst bestimmt aussprach11 und was jetzt von sehr vielen als Überzeugung geteilt wird, das eingespritzte körperfremde Eiweiß, dem dies zuzuschreiben ist. Dies gilt auch für die sogenannten „Heilsera“, die keinerlei „spezifisches Antitoxin“ enthalten.

      Ich halte es gleicherweise für unerwiesen und falsch, dass die Gewöhnung an Gifte, wie Morphin, auf die sich immer mehr steigernde Fähigkeit des Organismus, das Morphin zu zerstören, zurückzuführen sei und darauf beruhe. Schon der Nachweis, dass das Gehirn von Ratten, die gegen Morphin immunisiert worden sind, noch eine Stunde nach der Vergiftung, ohne Symptome zu zeigen, größere Giftmengen enthält, als das Gehirn eines nicht immunen Tieres, das durch eine solche Dosis schwer vergiftet ist, spricht dagegen.

      Meine Auffassung über das Wesen der Gewöhnung an Gifte habe ich wiederholt zum Ausdruck gebracht12 und sie ist so Gemeingut geworden, dass mancher, der sich danach [31]

      über das gleiche Problem vernehmen ließ und sie als zutreffend erkannt hat, schließlich in geistig kommunistischer Anwandlung der Meinung war, dass sie ihm entstammt sei.

      Sie stellt sich in folgender Weise dar. Denkt man sich, es wirke ein reaktionsfähiger Stoff einmal auf gewisse Zellkomplexe im Körper ein, so wird irgendeine funktionelle, mehr oder minder erkennbare, ungewohnte Äußerung ihrerseits erfolgen. Die Rückkehr zum üblichen Zustande erfolgt, wenn außer der Erholung der beeinflussten Gewebe die einwirkende Substanz von ihnen frei wird. Bei häufiger Zufuhr eines mit chemischer Energie versehenen Stoffes findet aber weder das Eine noch das Andere statt. Jede neu eingeführte Menge findet noch Reste der früheren und eine eventuell irgendwie veränderte Funktionsfähigkeit des beeinflussten Gebietes vor.13 Während die Zelle durch ihr Leben, d. h. ihre durch chemische oder physikalische Vorgänge erlangten Spannkräfte, eine Zeitlang imstande ist, einen ihr zugeführten fremden, reaktiven, nicht assimilierbaren Stoff in irgendeiner Weise, auch in seinen Wirkungsfolgen zu überwinden, wird sie bei seiner immer wieder erneuten Zufuhr in immer wieder