Er trat mit der harten Spitze seines Stiefels gegen das Schienbein Dr. Daneschs. Funken des Schmerzes blitzten in seinem pochenden Schädel auf und ließen seinen Körper erzittern. Er sagte aber nichts. Auch zu seinem Freund sagte er nichts. Normalerweise erzählte er so über jene bitteren, qualvollen Vorfälle, als wären sie einem anderen passiert. Denn nur weitentfernte und endlose Erinnerungen herrschten über seine Gedanken. Es waren Erinnerungen an Ereignisse, die er nur einmal unter dem klaren, sonnigen Himmel Irans oder dem bedeckten, wolkigen Himmel Deutschlands erlebt hatte, die er aber vollständig und tagtäglich von neuem und unter veränderten Umständen durchlebte: in den vier Wänden seiner engen, weißen Zelle neben einem zerbrochenen Kamm, einer abgenutzten Zahnbürste, einem Löffel und einem Plastikteller, dessen matte Oberfläche an verschiedenen Stellen von Zigarettenglut angebrannt war und wie eine alte vernarbte Wunde aussah. In dem einen Jahr, in dem er mit verbundenen Augen in der Einzelzelle saß, durchstreifte er alle Wohnviertel seiner Kindheit. Er traf Menschen an – von deren Tod er gehört hatte –, die munter, gesund und voller Lebenskraft durch die engen, öden Gassen Semnans zogen. Sobald sie sich ihm näherten, schlugen sie vor Freude die Hände zusammen, lachten auf, öffneten die Arme, um ihn zu umarmen und mit ihren heißen, feuchten Lippen sein Gesicht und seine Stirn zu küssen. Seltsamerweise wussten sie alle, dass er Arzt geworden war. Selbst Leute, mit deren Enkelkindern er gespielt hatte, als er noch kurze Hosen trug, klopften ihm auf die Schulter und sagten ihm schwermütig: »Gesegnet sei dein Leben, mein Junge! Wir sind ja unserem Lebensabend nah, du aber sollst unser Schicksal rächen.« Dr. Danesch erkannte einige von ihnen nicht wieder. Aber aus Höflichkeit und Anstand küsste er sie auf die Wangen und erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen. Wenn ihn manchmal sein Gedächtnis im Stich ließ und er unfähig war, jene quicklebendigen und leibhaftigen Gespenster wiederzuerkennen, stellte er betroffen fest, dass sich ihre rotwangigen Gesichter verzogen und ihre Freude und Leidenschaft verschwanden. Dann benahm sich der Doktor so, als habe er im turbulenten Kampf gegen sein Gedächtnis gesiegt. Er lachte laut, umarmte sie fester und fragte sie nach ihrer Meinung über seine Wahlrede, ohne sich die Unwissenheit über ihre Identität anmerken zu lassen.
Dies war kein Traum mehr und keine Phantasie. Dr. Danesch war von der Partei in der Tat für die Wahl zum Islamischen Parlament nominiert worden. Als Maral einem Bundestagsabgeordneten erzählte, dass ihr Vater vor sieben Jahren von mehr als 7000 Menschen als ihr Parlamentsabgeordneter gewählt worden war und nun unter den Folterungen dem Tode nahe war, anstatt sein Mandat wahrzunehmen, war jener Abgeordnete so verwundert, dass er schlicht und einfach an der Aufrichtigkeit der Äußerungen Marals zweifelte. Er schüttelte seinen Kopf und sagte: »Es ist unglaublich! Können Sie mir seine Wahlrede besorgen?«
Die Rede war sehr schlicht und einfühlsam verfasst. Mal roch sie nach dem Duft der Weizenfelder, deren goldene Ähren bis zum Horizont reichten und die durch die starken, von den Fesseln der Diktatur und Ausbeutung befreiten Hände jener Menschen bestellt werden sollten. Mal sickerte der Gestank der Verwüstung, Zerstörung und Korruption, die der Schah-Clan und die USA in jeder Ecke dieses Landes hinterlassen hatten, durch sie hindurch. Mal trat aus der Rede eine lange Reihe – so lang wie die Geschichte selbst – gefolterter, hingerichteter, blutig geschundener Frauen und Männer vor, die in einem ungleichen Kampf gegen die Mächte der Gewalt und Unterdrückung gefallen waren. Sie schauten mit besorgten, fragenden Augen auf die Menge der versammelten Menschen. Dann fühlte jeder Teilnehmer der Wahlkundgebung ein leichtes Klopfen auf seinen Schultern. Kaum umgedreht würde er dem Blick einer jener Frauen und Männer begegnen, die sich mit leuchtenden Augen und lächelndem Mund an sie richteten und ihnen ins Ohr flüsterten: »Nun bist du frei. Vergiss mich nicht in diesem Frühling der Freiheit. Ich habe auch mein Scherflein dazu beigetragen, dass du heute hier stehen kannst!«
Nein, von Gewalt und Unterdrückung, der Notwendigkeit von Terror und Bluttaten war in der Rede kein Wort. Dr. Danesch hatte vor allem von einer anderen Heimat gesprochen, die man auf der jetzigen errichten sollte: eine Heimat, in der alle Kinder wie auch die Enten und Tauben Brot haben sollten. Es sollte ein Land entstehen, das seinen Frauen und Männern neben der sozialen Gerechtigkeit auch die Freiheit schenkte. »Uns wurde nach einem halben Jahrhundert der Herrschaft von Gewalt, Unterdrückung und Korruption eine halb ruinierte Heimat überlassen, damit wir diese in ein irdisches Paradies verwandeln. Und wir werden dies tun … gemeinsam … miteinander und füreinander. Es lebe die Revolution! Vorwärts zur Festigung, Vertiefung und Verbreitung der Revolution!«
Verzaubert vom Ton des Doktors stöhnte die Masse mal auf, mal lachte sie, mal schrie sie in zügellosem Hass und Zorn »Tod dem Schah«, »Tod den USA«. Doch die meiste Zeit dachten die Menschen stumm und mit feuchten Augen an die wunderbare Schönheit der Traumheimat, die der Doktor ihnen für wenige Minuten mit Worten zum Leben erweckt hatte. Sie zitterten vor Freude und Leidenschaft. Als der Doktor sie, ohne eine Antwort zu erwarten, fragte: »Sind denn unsere Kinder nicht würdig, im Land der Liebe und Freundschaft, im Land des Wohlstands und des Glücks aufzuwachsen?«, nickten sie alle als Zeichen der Zustimmung mit dem Kopf. Selbst der Hadji war so aufgeregt wie ein Kind, ließ die Perlen seiner Gebetskette schnell durch die Finger gleiten und flüsterte: »Ja, doch! Ja doch! Ich schwöre bei Gott, dass sie es sind! Ich schwöre bei meinen Ahnen!« Dr. Danesch fragte: »Warum sollen das zarte, hübsche Gesicht dieses Mädchens anstatt der Küsse der Liebe immer nur hartnäckige, dreckige Bremsen berühren? Warum müssen die schönen, großen Augen dieses Jungen vom Trachom blind werden? Warum soll der Vater von Modjataba an einer einfachen Erkältung sterben? Warum? … Warum? … Warum?«
Die Menge schüttelte bewegt den Kopf und fragte sich: »Warum? … Warum? … Warum eigentlich?«
»Dieser Ungerechtigkeit muss ein Ende gesetzt werden! Ich sage es laut, als ein kleiner Landsmann von euch, Leute. Dieses Leben ist krank. Es muss behandelt werden. Es muss geheilt werden.«
Obwohl der Hadji von ganzem Herzen fühlte, dass er für den Aufbau der fröhlichen, freien und sorglosen Welt war, deren Botschaft der Doktor überbrachte, entschloss er sich auf der Stelle, ihm seine Stimme nicht zu geben. Er sagte sich: »Er kann verdammt gut reden, dieser Gottlose! Vielleicht hat er sogar recht. Aber das kostet alles Geld. Aus welcher Tasche will er das bezahlen? Aus meiner und der meinesgleichen? Ha, ha, ha! Es lässt sich ja leicht großzügig werden, wenn die Rechnung aus fremden Taschen bezahlt werden muss! Du kannst mich mal! Ich zahle keinen Pfennig Steuer, denn es ist ja schließlich gegen unseren Glauben. Diese religiösen Abgaben sind ja mehr als genug.«
Ohne dass sein Gefühl der Zuneigung und Verehrung für den Doktor nachgelassen hätte, sagte er ihm später: »Lieber Doktor, du denkst zu viel an diese irdische Welt. Und dies wird dich letzten Endes den Kopf kosten! Glaub mir, was diesem Land fehlt, ist einzig und allein Allahs Segen … nur Gottes Gnade … und Gott sei Dank wird auch dieser Mangel durch die Errichtung der Islamischen Republik und die Herrschaft des Imam allmählich behoben. Wozu brauchen wir denn den Himmel, wenn wir auf dieser Welt wie im Paradies leben sollten. Du bist ein guter Mensch, Doktor, hast ein reines Herz. Es ist aber nicht der rechte Pfad, auf den du dich begeben hast. Komm, gehen wir mal zusammen zum Freitagsgebet, setzen wir uns mit dem Freitags-Imam zusammen. Du sollst den Imam bitten, dass er dich zum rechten Weg bekehrt. Er steht dem barmherzigen Gott am nächsten. Vielleicht kann er bei Gott und dem Propheten für dich beten.«
»Mensch, Hadji, wo denkst du denn hin? Seit Jahren regle ich auch ohne Vermittler meine Angelegenheiten mit Gott!«
Der Hadji legte ungeduldig die Hände zuerst an die Stirn, dann auf die Augen und zuletzt an seine Ohren und zitterte bei der Vorstellung, dass der Doktor mit solchen gotteslästerlichen Äußerungen direkt in den Abgrund der Hölle stürzen würde. Er riet ihm aber trotzdem geduldig: »Du brauchst die Waagschale deiner Sünden mit diesen Worten nicht noch mehr zu beschweren, als sie es ohnehin schon ist.«
Während Dr. Danesch über sein Schienbein fuhr und der Schmerz wie Kristallsplitter in seinen ganzen Körper stach, stellte er bei sich plötzlich einen Schwachpunkt fest, den er bis zu jenem Moment nicht erkannt hatte. Dieser Schwachpunkt konnte ihn schneller als die Qual der Erniedrigung, der Schmerz der Folter und das Leid des Eingesperrtseins zerbrechen: Es war die Schwäche des Alterns, die sich wie Efeu um sein Herz, seine Muskeln und Adern wand,