Bundeskanzler Schranz
Irgendein Spaßvogel hatte das komplette Gespräch zwischen McFarlan und mir auf der Dachterrasse des Hotels mit seinem Smartphone aufgenommen und über diverse soziale Medien veröffentlicht. Isabel Schulz war so aufmerksam, mir das per Kurznachricht mitzuteilen. Ich las die Kommentare und musste erstaunt feststellen, dass die meisten davon durchaus positiv waren.
Kurze Zeit später klingelte mein Handy.
Es war Bundeskanzler Schranz.
»So spät noch wach?«, wollte ich von ihm wissen.
»Ja, Gott sei Dank. Sonst hätte ich erst morgen früh erfahren, dass du ein sehr angeregtes Gespräch mit dem Nationalen Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten hattest.«
»Rainer, es tut mir wirklich leid, aber dieser Arsch hat …«
»Wofür entschuldigst du dich? Denkst du, ich hätte nicht damit gerechnet, dass du jedem, unabhängig von Rang und Namen, die Meinung sagst?«
»Ich … also … äh …«
Schranz lachte. »Genau das ist es, was ich von dir erwarte, Nicolas.«
»Ach …«
»Ja. Deutschland hat eine neue Regierung. Und es weht ein neuer Wind.«
»Okay …«
»Das können ruhig alle erfahren. Und wenn es, wie im aktuellen Fall, auf die harte Tour geschieht, dann ist das eben so. Im Übrigen hat es da genau den Richtigen erwischt.«
»Ich bin beruhigt«, sagte ich. »Zumal der Außenminister sich da etwas anders ausgedrückt hat.«
»Köhler ist ein alter Hase in der Diplomatie. Von ihm erwarte ich natürlich schon ein subtileres Vorgehen.«
»Das kann er auch besser als ich.«
»Und, wie war dein Eindruck?«
»Von wem oder was?«
»Von McFarlan. Immerhin vermuten wir, dass auch er in die Verschwörung verstrickt ist.«
»Der Typ ist arrogant. Komischerweise hatte ich das Gefühl, meine Ansagen hätten ihn … beeindruckt.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Er sagte, dass er schon gehört hat, das ich Eier hätte.«
»Natürlich sind er und der Außenminister zuvor gebrieft worden.«
»Ist schon klar. Aber eigentlich kennt mich doch keiner.«
Schranz schwieg einen Moment. »Da hast du auch wieder recht …«
»Also, wer hat ihn über meine Klöten informiert?«
»Gute Frage …«
Kurzer Zeit später rief Helen mich an.
»Bist du wieder dicker geworden?«, wollte ich von ihr wissen.
Sie kicherte. »Ich glaube schon, ja.«
Helen war im siebten Monat schwanger und wir freuten uns wie verrückt auf unser Kind.
»Du fehlst mir«, sagte ich.
»Bist doch erst ein paar Stunden weg.«
»Na und?«
»Du warst im Fernsehen.«
Oha …
»Und, war ich gut?«
Helen zögerte mit der Antwort. »Du warst … du warst du.«
»Ist das gut oder schlecht?«
»Hast du schon mit Rainer gesprochen?«
Feigling!
»Der Kanzler fands gut.«
»Na dann …«
»Wie jetzt, ›na dann‹?«
»Du hast dem armen Kerl ganz schön zugesetzt.«
»Wenn er mir blöd kommt.«
»Hast ja recht.« Pause. »Und Rainer fand das wirklich gut?«
»Jaha.«
»Ich fand’s auch klasse.«
»Und was haben die im Fernsehen gesagt?«
»Was anderes …«
9
»Es geht hier um Reaktionsgeschwindigkeit, also Kinetik.«
Mohamed Said Ali
Die dringendste Frage lautete, wie sie die Zutaten besorgen sollten, ohne Aufsehen zu erregen. Erstens handelte es sich bei den benötigten Substanzen nicht um handelsübliche Chemikalien. Und weil das so war, würde die große Menge, die sie benötigten, eventuell Fragen nach sich ziehen. Fragen, die sie unter allen Umständen vermeiden wollten. Daher kauften sie die erforderlichen Chemikalien über mehrere Mittelsmänner in kleinen Chargen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Die nächste Frage lautete, wo sie das gefährliche Zeug verarbeiten sollten.
Es war ein aufwendiger und äußerst komplizierter chemischer Prozess erforderlich, um das gewünschte Resultat zu erhalten. Idealerweise würde die Produktion in der Nähe des Anschlagortes erfolgen. Ein längerer Transport des fertigen Produktes kam nicht infrage.
Zu groß war das Risiko einer vorzeitigen Detonation.
Aber sie hatten unverschämtes Glück.
Auf derselben Insel, auf welcher der Anschlag geplant war, entdeckten sie ein kleines Unternehmen, das sich mit der Produktion von Pflanzenschutzmitteln beschäftigte. Die Firma stand kurz vor der Insolvenz und war auf der Suche nach Investoren. Über einen Strohmann, ein Anwalt aus der Schweiz, nahmen sie Kontakt zum Insolvenzverwalter auf. Man vereinbarte einen Termin, um das Objekt zu besichtigen.
Vor allem die vorhandenen Maschinen waren von größtem Interesse. Als feststand, dass sie etwa die Hälfte der Produktionsmaschinen verwenden konnten, machten sie dem Anwalt ein Angebot, das er unmöglich ablehnen konnte. Für relativ wenig Geld erwarben sie genau die Produktionsstätte, die sie gesucht hatten. Abgeschieden und in der perfekten Größe. Und wenn man die richtigen Leute bezahlte, stellte auch niemand unbequeme Fragen. Die fehlenden Maschinen und anderen technischen Teile zu besorgen würde zwar noch einmal eine stattliche Summe verschlingen, aber Geld spielte eine untergeordnete Rolle.
Auch die Suche nach einem erfahrenen Chemiker, der ihnen den Sprengstoff herstellen würde, erwies sich als relativ einfach. Sie fanden ihn in Südafrika. Der in Somalia geborene Mohamed Said Ali arbeitete in Kapstadt als leitender Chemiker in einer Fabrik, die Dünge- und Pflanzenschutzmittel herstellte. Ali führte seine Auftraggeber durch die modernisierte und umgebaute Produktionsstätte auf der Insel. Sie standen nun an einem Metallgeländer und blickten hinab auf eine der drei Produktionshallen. Überall glänzendes Metall, Absauganlagen und ein Wirrwarr aus Leitungen und Rohren. Für Alis Gäste eine vollkommen fremde Welt.
Ali hatte nach unten gedeutete. »Was Sie wollen, ist ein sehr, sehr starker Sprengstoff. Hexanitroisowurtzitan ist einer der stärksten bekannten chemischen Sprengstoffe und gehört zur Gruppe der Nitramine. Die enorme Sprengkraft liegt sowohl an seiner hohen Dichte als auch an der hohen inneren Spannung des Moleküls.«
Sie waren einige Schritte weitergelaufen.
Ali blieb wieder stehen und sah seine zwei Besucher an. »Für eine kommerzielle Nutzung ist Hexanitroisowurtzitan wegen der aufwendigen Synthese und der damit verbundenen hohen Produktionskosten bisher zu teuer. Was Sie da unten sehen, ist einer von mehreren Katalysatoren, die wir hier einsetzen.«
Die zwei Männer blickten nach unten und sahen nichts weiter als zwei übergroße Kochtöpfe.
Ali fuhr fort. »Die Synthese von Hexanitroisowurtzitan erfolgt in einer