Zwar bot das große Grand Hotel oben in der Allenstreet mit seinen zwei Geschossen mehr Aufwand und Komfort, aber Nellie Cashmans Russianhouse stand ihm kaum nach. Die Zimmer waren groß, sauber und gepflegt, und das Essen, das in der großen Halle eingenommen wurde, war sicherlich nicht schlechter als oben im Grand Hotel, es unterschied sich wohl nur durch den niedrigeren Preis davon. In den Dezembertagen des Jahres 1883 befanden sich an den Enden der Seitenflügel je ein großes Fenster, durch das man von außen ohne weiteres die Gänge sehen konnte.
Erst nach den Ereignissen dieses Tages ließ die Hausbesitzerin die Fenster vernageln. Das hatte natürlich den Nachteil, daß die Gänge dunkel waren und infolgedessen auch tagsüber von vielen Kerosinlampen erleuchtet werden mußten.
Unten bei Fred Olbers, nicht sehr weit vom Russianhouse entfernt, arbeitete seit anderthalb Jahren ein siebenundzwanzigjähriger eingewanderter Bulgare: Osrodan. Niemand wußte genau, ob er wirklich so hieß. Seinen Vornamen kannte man nicht. Er wurde einfach Billy genannt. Billy Osrodan war von untersetzter Statur, schmal, mit hagerem Gesicht und langer, spitzer Nase, die fast bis zum Kinn hinunter lief. Seine Augen standen zu nahe bei der Nase, und er schien etwas zu schielen. Struppig und schwarz war sein kurzgeschorenes Haar. Er trug zumeist abgetragenes Tuchzeug, das ihm viel zu groß war. Waffen schien er nie bei sich zu haben. Nie hat jemand begriffen, was diesen Mann zu der Tat getrieben hat, die er an jenem Dezembertag ausführte.
Sein Weg wurde später genau verfolgt: Er hatte bis ein Uhr in der Sägemühle gearbeitet und war dann mit einer flüchtigen Entschuldigung beim Boß – hinaus in den Hof gegangen. Niemand hatte etwas dabei gefunden, da man mit seiner baldigen Rückkehr rechnete.
Osrodan mußte um die Hinterhöfe der beiden Häuser, die zwischen der Sägemühle und dem Vieh-Corral standen, herumgegangen sein. Wie er allerdings ungesehen an dem großen Corral vorbeigekommen ist, war schwer zu begreifen, da zu dieser Zeit drei Männer dort mit dem Abreißen schadhaft gewordener Latten beschäftigt waren.
Von diesem Corral aus zum Ostflügel des Russianhouses waren es noch über dreihundert Yards. Eine weite Strecke, auf der man ihn ebenfalls hätte sehen müssen. Aber niemand schien ihn gesehen zu haben.
Wyatt Earp stand etwa in der Mitte des Ganges, nicht ganz zehn Yard von dem Fenster entfernt, als plötzlich ein Schatten das Licht im Flur verdunkelte.
Wyatt drehte sich sofort um, sah den Mann und den auf ihn gerichteten Revolver.
Aber es war ein Doppelschuß, der aufblitzte.
Die Kugel des Bulgaren streifte die linke Wange des Marshals und hinterließ eine blutige Spur.
Wyatt zog, und die Kugel stieß den Mann zurück.
Der Marshal war indessen vorsichtig genug, nicht sofort auf das Fenster zuzustürmen, um hinauszuspringen. Denn es war ja, nach dem, was er vor einer Dreiviertelstunde im Liverystable des O. K. Corrals gehört hatte, nicht ausgeschlossen, daß draußen noch weitere Heckenschützen auf ihn lauerten.
Die Eingangstür flog auf, und die riesige Gestalt des Texaners erschien in der Halle.
»Wyatt!« brüllte er, als er den Marshal links in einer Türnische am Boden knien sah.
Der Marshal hatte den Revolver in der Faust.
»Hinten am Fenster!« rief der Missourier dem Freund zu.
Luke Short nickte und verschwand sogleich wieder durch die Tür.
Er rannte um die längere Ecke des Hauses herum, doch als er die Südfront erreicht hatte, versperrte ihm das etwas offenstehende Tor den Blick auf die Seite, an der das Flurfenster lag.
Langsam entfernte sich der Tex vom Haus.
Nichts! Der Platz vor dem Fenster war leer. Luke sah die zertrümmerten Scheiben und gleich darauf sah er auch den Marshal am Fenster erscheinen. Er schüttelte den Kopf.
Da sprang Wyatt durch das Fenster und lief um die Ostecke des Hauses herum. Auch hier war nichts zu sehen.
Allerdings zog sich etwa in der Mitte des Hauses eine lange, jetzt aber völlig kahle Tecarillahecke unter den Fenstern entlang.
Es war fast ausgeschlossen, daß sich dort ein Mensch verbergen konnte.
Wyatt lief mit blutendem Gesicht an der Hausfront entlang vorwärts und durchstöberte die Hecke.
Da waren Schritte hinter ihm.
Er wandte sich um.
Es war der Texaner.
»He, hat er sich in Luft aufgelöst?«
»Keine Ahnung.«
Die beiden liefen jetzt in entgegengesetzter Richtung um das ganze Anwesen herum und trafen oben an der Nordwestecke wieder aufeinander.
»Nichts?« fragte der Marshal.
Der Texaner zog die Schultern hoch. »Nein, nichts.«
Während Wyatt auf den Eingang zuging, sagte er halblaut: »Es ist sicher am besten, wenn Sie jetzt ins Office gehen und dort Wache halten.«
Der Tex nickte und schlenderte davon, so, als habe er die Absicht, in die Allenstreet hinaufzugehen.
Wyatt Earp stieß hinterm Eingang auf den Diener Sam.
»Mr. Earp! Sie sind verletzt, um Himmels willen!«
Aus dem Kontor kam Nellie Cashman. Als sie das Blut im Gesicht des Missouriers sah, stieß sie einen Schrei aus und hielt sich an der Tür fest.
»Es ist nicht schlimm«, beruhigte Wyatt sie – und ging mit raschen Schritten auf Doc Hollidays Zimmer zu. Als er die Tür öffnete, sah er in einen fast dunklen Raum.
Die Fensterläden waren zugezogen. Im schwachen Licht, das durch zwei Ritzen fiel, sah er die Gestalt der Frau neben dem Bett des Verwundeten.
»Alles in Ordnung?« fragte Wyatt.
»Ja, Mr. Earp«, entgegnete Laura Higgins.
»Gut.«
Er wollte sich umwenden. Doch jetzt, als er in der Tür stand, sah auch sie das Blut in seinem Gesicht.
»Sie sind ja verwundet.« Rasch kam sie auf ihn zu.
»Nicht so wichtig.«
»Wer hat geschossen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Um Himmels willen!« flüsterte sie. »Das ist ja schrecklich.«
In plötzlich aufsteigender Furcht griff sie sich an die Kehle. »Man hat es auf ihn abgesehen. Auf Doc Holliday. Ich weiß es. Der Mann, der ihn heute morgen in den Rücken geschossen hat, weiß, daß er noch nicht tot ist. Er muß es erfahren haben. Und das war ja auch nicht schwer.« Plötzlich wandte sie den Kopf und starrte den Marshal an. Ein Name brach über ihre Lippen: »Ike Clanton!«
Wyatt blickte sie verblüfft an. »Ike?«
»Ja, er muß es gewesen sein. Er, und kein anderer. Schon in dem Augenblick, als er die Schenke betrat, glaubte ich es.«
»Aber wie wollen Sie das beweisen.«
»Beweisen? Ist es notwendig, das zu beweisen? Er muß es gewesen sein. Wie kam er so plötzlich in die Schenke?«
»Er hat seinen Vetter gesucht.«
»Seinen Vetter«, entgegnete sie höhnisch. »Das ist eine gute Ausrede. Wie kam der Vetter in die Schenke?«
»Das weiß ich natürlich auch nicht. Wahrscheinlich war es der erste Whiskystall auf seinem Weg in die Stadt.«
»Ja, auch das ist eine gute Ausrede. Nein, Mr. Earp. Das können Sie mir nicht einreden. Ich bin eine Frau und habe ein besonderes Gefühl für diese Dinge. Als Ike den Schankraum betrat, wußte ich sofort, daß er es gewesen sein muß. Am liebsten hätte ich meinen Derringer aus der Handtasche gerissen und ihn erschossen!«