Er hatte eine übermannshohe Fenz erreicht, die so dicht geschlossen war, daß man nicht hindurchsehen konnte.
Rasch näherte er sich dem Tor, das anscheinend nicht ganz fest geschlossen war.
Durch eine Ritze konnte er einen vierschrötigen Mann erkennen, der eine junge, dralle Frauenperson vor sich her schob, der er die Hände auf dem Rücken zusammengebunden und einen Knebel in den Mund geschoben hatte.
Der Marshal kannte den Mann genau. Es war ein Gehilfe des Schlachters Bings, der vorn auf der Allenstreet ein Geschäft hatte.
Der rüde Bursche mit dem ausladenden Kinn und den kleinen Schweinsaugen schob das schreckensbleiche, vielleicht siebzehnjährige Mädchen vor sich her auf einen Geräteschuppen zu.
Als er die Tür aufgerissen hatte, fiel das Mädchen vor ihm nieder und sank mit dem Gesicht auf den Boden.
Der Mann merkte nicht, daß es die Besinnung verloren hatte, riß es hoch und versetzte ihm zwei klatschende, harte Ohrfeigen.
Die unglückliche Loury Smisson kam wieder zu sich und sog die Luft verzweifelt durch die Nase.
Tödliche Angst stand in ihren Augen. Der Mann zerrte sie an den Oberarmen hoch.
»Los, da rein mit dir!«
Da flog hinten der Torflügel auf.
»Du bist wohl verrückt geworden, Fred!«
Wyatt Earp trat in den Hof.
Frederic Haarmacher warf den Kopf herum und starrte entsetzt auf den Marshal.
»Wyatt Earp?« entfuhr es ihm.
Wyatt kam auf ihn zu und stieß ihn zurück. Dann zog er der Frau den Knebel aus dem Mund und schnitt ihr die Handfesseln durch.
Das Mädchen stand blutübergossen da, und plötzlich riß es dem bulligen Schlachtergehilfen eine gewaltige Ohrfeige ins Gesicht, die den Kopf des bulligen Mannes zur Seite warf.
Dann rannte sie, laut schreiend und weinend, ins Haus zurück.
Der Schlachtergehilfe blickte den Marshal aus stieren, blutunterlaufenen Augen an.
»Das werde ich Ihnen nie vergessen, Earp.«
Diese Unverschämtheit konnte der Missourier nur mit der gleichen Münze bezahlen wie das Mädchen.
Seine linke Hand klatschte auf die Wange des Strolches.
Der Bursche torkelte zurück.
»Solche Halunken wie du gehören ins Jail, Fred!« donnerte ihn der Marshal an.
Haarmacher schluckte schwer.
»Ins Jail?« Plötzlich schien er seine Lage zu begreifen. »Aber Marshal, ich bitte Sie, ich habe eine Frau und zwei Kinder.«
Wyatt senkte seinen Blick in die flimmernden Lichter des Wüstlings.
»So, eine Frau und zwei Kinder. Schämst du dich denn nicht, Mensch?«
Da sank der Kopf des Mannes auf die Brust herunter.
Ein Beben lief durch seinen Körper.
Der Marshal wandte sich um und verließ den Hof.
Erst das Zufallen des Tores ließ den Schlachtergehilfen zusammenzucken.
Er blickte auf und sah, daß der Marshal verschwunden war.
Niedergeschlagen trottete er dem Haus entgegen.
Da erschien oben die massige Gestalt seines Bosses in der Tür.
»Fred? Komm doch mal her!« sagte er mit heiserer Stimme, in der aber ein drohender Unterton mitschwang, den der Gehilfe genau kannte.
Er machte zwei Schritte auf die Treppe zu, und da holte der Schlachtermeister mit seiner gewaltigen Pranke aus und versetzte ihm einen Faustschlag, der ihn weit in den Hof zurückwarf und benommen im Staub liegen ließ.
Wyatt Earp war weitergegangen.
Fast schon hatte er die Ecke erreicht, die auf den Hof des Crystal Palaces führte, als er in einem der letzten Häuser einen hemdsärmeligen Mann von etwa dreißig Jahren breitbeinig in der Hoftür stehen sah.
Es war der ehemalige Overlanddriver Jonny Fulham.
Vor zwei Jahren, im Sommer, war er von dem Mashal der Unredlichkeit überführt worden. Er hatte kleinere Beträge der Postgelder unterschlagen und vielleicht auch wertvollere Dinge, was aber nicht nachgewiesen werden konnte.
Fullham hatte dadurch seinen Posten bei der Wells Fargo Overland verloren und war seitdem arbeitslos. Das heißt, er hätte längst eine neue Arbeit finden können. Aber er wollte es ja nicht. Er war das geblieben, was er schon vorher war – ein Tramp.
Ein Outlaw!
Ein Mann, der immer schon zu den Clantons gehört hatte. Engbefreundet mit den Flanagans, mit den Vichams und den Pattons. Mit Familien, die alle mit den Clantons verwandt waren.
Wyatt hatte Luke Short eingeschärft, auf diesen Mann ein besonders wachsames Auge zu haben.
Der Hof war von einer halbhohen Mauer umgeben.
Wyatt war stehengeblieben, lehnte sich über diese Mauer und blickte den Mann unverwandt an.
Der wurde plötzlich unsicher unter dem Blick und kam langsam in den Hof.
»Wollen Sie etwas von mir, Marshal?«
Wyatt antwortete nicht.
Fulham kratzte sich den struppigen, ungekämmten Schädel.
»Ich weiß gar nicht, warum Sie hier herumstehen und mich anstarren!«
Wyatt schwieg.
Noch unsicherer geworden, stieß der Outlaw einen Fluch durch die Zähne. »Was ist denn los? Ich habe doch nichts verbrochen, Marshal. Warum stehen Sie hier?«
Immer noch gab der Marshal keine Antwort.
Da trat der Mann einige Schritte näher, blieb vier Yard vor der Mauer stehen und ballte die Fäuste, streckte die behaarten Unterarme nach vorn und keuchte mit mühsam verhaltener Stimme: »Was stehen Sie hier, Marshal! Was wollen Sie von mir? Ich habe doch nichts getan.«
Wyatt blickte ihm kühl in die Augen.
Da preßte der Bandit heiser durch die Zähne: »Ich habe ein sauberes Gewissen, Marshal.«
»So«, entgegnete Wyatt, »dann ist es ja gut.«
Er wandte sich ab und ging langsam weiter. Als er die Schuppen, die den Hof des Crystal Palaces abschlossen, erreicht hatte, blieb er stehen.
Er wartete ein paar Minuten und ging dann langsam zurück.
Er hatte sich nicht getäuscht. Fulham hatte sein Pferd aufgesattelt und stieß gerade das Hoftor auf.
Wie angenagelt blieb er stehen, als er den Marshal plötzlich wieder vor sich sah.
»Ich… ich habe gerade einen Weg zu meinem Vetter.«
»Aha.«
»Ja.«
Fulham wischte sich über das Kinn. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, eine Jacke anzuziehen.
»Scheint ja ein ziemlich eiliger Weg zu sein«, sagte der Marshal.
»Ja, ein sehr eiliger Weg.«
»Aha. Dann lassen Sie sich nicht aufhalten, Fulham.«
Fulham aber rührte sich nicht von der Stelle. Und der Marshal auch nicht. Er stand vor ihm und blickte ihn nur an.
Wut und ohnmächtige Verzweiflung kämpften in dem Gesicht des Verbrechers miteinander.
»Ich weiß gar nicht, was Sie wollen, Earp!« stieß er plötzlich hervor. »Ich habe wirklich nichts getan. Ich habe ein reines Gewissen. Und wenn ich jetzt zu meinem Freund reiten