Miriam bedauerte, dass auch die anderen Betroffenen keinerlei Hinweise auf die Täter hatten. Sie hatten bisher nicht einmal gewusst, dass das Holz mit einem dunklen Lastwagen abgeholt wurde. Bevor sie und Harald sich am späten Nachmittag auf den Nachhauseweg machten, beschlossen sie, dem Sägewerk Kubner noch einen Besuch abzustatten. Es lag außerhalb des Tales, und von dort hatte es bisher noch keine Anzeige wegen Holzdiebstahl gegeben. Möglicherweise hatten die Diebe aber vor, ihren Einzugsbereich auszudehnen, und die Leute, die es betreffen konnte, bekamen die Chance, sich vorzubereiten, wenn sie gewarnt wurden.
»Willst du nicht vorher kurz anrufen, ob heute überhaupt jemand da ist?«, fragte Harald auf dem Weg zu ihrem letzten Besuch.
»Es kostet uns nur eine Viertelstunde. Wenn niemand da ist, dann rufe ich sie am Montag an und frage sie, ob sie Interesse daran haben, uns zu helfen, weitere Diebstähle zu verhindern.«
»Denkst du wirklich, diese Leute werden es noch einmal riskieren, in unsere Wälder einzudringen? Sie wissen doch, dass nach ihnen gefahndet wird.«
»Deshalb glaube ich, dass sie sich ein neues Gebiet suchen.«
»Aber doch nicht so nah an ihrem ersten. Das wäre leichtsinnig.«
»Mag sein, aber die meisten Diebe halten sich für schlau und denken, dass sie die Polizei überlisten können.«
»Da ist etwas dran«, stimmte Harald ihr zu.
Das Sägewerk Kubner lag außerhalb eines Dorfes am Ende einer Sackgasse. Bis zur nächsten Autobahnauffahrt waren es nur ein paar Meter.
»Fahr auf den Hof, das Tor steht offen«, sagte Miriam, als Harald auf der Straße vor dem Sägewerk anhielt.
»Alles klar.« Im Schritttempo lenkte er den gelben Sportwagen auf das von einer Mauer umgebene Grundstück.
»Was ist denn hier los?« Miriam konnte nicht glauben, welcher Anblick sich ihnen gleich darauf bot.
Auf dem Hof herrschte Chaos. Frisch angelieferte Baumstämme, bereits in Hälften geteilte Stämme, für den Möbelbau zugeschnittene Latten, Holzreste für den Gebrauch als Brennholz, Planen, Werkzeuge und Nägel, alles lag in einem wilden Durcheinander einfach auf dem Hof herum. Inmitten des Durcheinanders standen zwei Gabelstapler, so, als hätten sie das ganze Chaos angerichtet.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, wunderte sich auch Harald, nachdem er den Sportwagen gleich nach dem Durchqueren der Einfahrt angehalten hatte.
»Hier sieht es aus, als wären alle mitten in der Arbeit davongelaufen und hätten einfach alles fallen lassen«, mutmaßte Miriam. »Komm, wir sehen uns mal ein bisschen um.«
»Ich weiß nicht, wir können doch nicht einfach auf einem fremden Grundstück herumlaufen«, gab sich Harald zögerlich.
»Das Tor steht offen, das bedeutet, dass jemand hier ist und Kundschaft erwünscht ist. Wenn kein Publikumsverkehr erwünscht wäre, dann hätten sie das Tor geschlossen.«
»Ja, schon, so ist es, wenn der Betrieb normal läuft, aber hier stimmt etwas nicht.«
»Richtig, deshalb sehen wir nach, was los ist.«
»Wir sollten an einen Wachhund denken.«
»Der wäre bereits aufgetaucht, meinst du nicht? Und überhaupt, seit wann hast du Angst vor Hunden?«
»Habe ich nicht, ich will nur darauf vorbereitet sein, falls irgendwo einer lauert.«
»Der zum Beispiel?«, fragte Miriam lachend, als sie aus dem Auto gestiegen waren und ein kleiner weißer Hund aus der Halle mit den Sägemaschinen kam und sie neugierig beschnupperte.
»Ich denke, er ist noch in der Ausbildung und wird froh sein, wenn wir ihn in Ruhe lassen. Alles klar, mein Freund«, sagte Harald und beugte sich zu dem Hund hinunter, um ihn zu streicheln.
»Hier sieht es auch nicht besser aus«, stellte Miriam fest, als sie gleich darauf die Halle betraten.
Auf den Laufbändern vor den Sägen lagen Baumstämme, die geschnitten werden sollten, und in den Sägen steckte Holz fest, so als hätte sie jemand ganz plötzlich abgeschaltet.
»Was ist hier nur passiert?«, fragte sich Miriam laut, während sie und Harald sich umsahen, ob sie irgendwo jemanden entdeckten, der ihnen diese Frage beantworten konnte.
»Ich glaube, da ist jemand«, flüsterte Harald und bewegte seinen Kopf in Richtung des zweistöckigen Wohnhauses, das gegenüber der Halle stand. Er hatte gesehen, wie sich die Gardine vor einem der Fenster im Erdgeschoss bewegt hatte.
»Dann sollten wir herausfinden, wer uns beobachtet«, erklärte Miriam.
»Denkst du nicht, das wäre leichtsinnig? Ich meine, wir haben keine Ahnung, was hier los ist. Vielleicht ist jemand durchgedreht und wollte, warum auch immer, das Sägewerk zerstören.«
»Oder es wurde von Außerirdischen besetzt. Das ist alles möglich.«
»Miriam, nimm die Sache ernst. Ich werde nicht zulassen, dass du dich in Gefahr begibst«, sagte Harald und packte sie sanft am Arm, um ihr zu zeigen, dass er entschlossen war zu handeln, sollte sie nicht auf ihn hören.
»Warte, die Tür geht auf«, flüsterte sie.
»Ja, ich sehe es«, antwortete er leise und lächelte in sich hinein, als Miriam sich in diesem Moment schutzsuchend an ihn lehnte. »Ich glaube, wir haben nichts zu befürchten«, stellte er erleichtert fest, als der kleine weiße Hund aus der Halle herausschoss und freudig bellend zur Tür des Hauses rannte.
»Wer sind Sie?«, fragte die grauhaarige Frau in dem dunklen Trachtenkostüm, die gleich darauf aus dem Haus kam.
»Wir kommen vom Sägewerk Holzer aus Bergmoosbach. Mein Name ist Miriam Holzer, das ist mein Assistent Harald Baumann. Wir wollten Sie fragen, ob Sie schon von unseren Problemen mit den Holzdieben gehört haben, die seit einigen Wochen in unserem Tal unterwegs sind.
»Mei, ich weiß nicht«, seufzte die Frau. »Sepperl, mein Schätzchen«, sagte sie, bückte sich und nahm den Hund auf ihre Arme, der sich zufrieden an sie kuschelte.
»Würden Sie uns sagen, wer Sie sind«, bat Miriam die Frau.
»Ich bin Resi Kubner.«
»Dann gehört Ihrer Familie das Sägewerk?«
»Schon seit drei Generationen.«
»Was ist hier passiert?«, wollte Harald wissen.
»Mei, es war furchtbar«, sagte Frau Kubner.
Sie ließ Sepperl wieder auf den Boden zurück und setzte sich auf die grüne Holzbank, die neben der Tür stand.
»Wollen Sie es uns erzählen?«, fragte Miriam und setzte sich neben Resi Kubner, während Harald stehen blieb und das Gelände im Auge behielt.
So ganz traute er dem Frieden offensichtlich nicht.
»Wissen Sie, es ist so, mein Sohn hat das Sägewerk nach dem Tod von meinem Mann vor drei Jahren übernommen. Erst lief es auch recht gut, aber dann hat er sich mit einem Hauskauf übernommen und wohl auch ein bissel spekuliert, und dann ging’s bergab. Vor ein paar Monaten musste er dann die meisten Leute entlassen.«
»Das tut mir leid«, sagte Miriam. Sie konnte erahnen, was es bedeutete, ein Unternehmen zu verlieren, das die eigene Familie aufgebaut hatte.
»Ich dacht auch schon, es ist alles zu Ende, aber dann kam dieser Mann, der sich meinem Sohn als Geschäftsführer angeboten hat. Er meinte, dass er das Sägewerk retten könnt, wenn er nur ihn und die Leute, die er gleich mitbringt, anstellen würd. Er hat dann einen Vertrag mit Gewinnbeteiligung mit ihm ausgehandelt, und dann ging es recht schnell wieder bergauf. Ich mein, er ist mir nicht sympathisch dieser Mann, aber er hat uns geholfen. Das muss ich anerkennen.«
»Wo finden wir denn Ihren Geschäftsführer