»Papa und du, ihr seid immer sehr gut ohne mich ausgekommen. Ich nehme an, dass du damit auch in Zukunft keine Probleme haben wirst«, erwiderte Robert scharf. »Ist dir überhaupt bewusst, wie lange ich unterwegs sein muss? Das geht nicht, ich kann hier jetzt nicht weg und komme dann, wenn ich es einrichten kann. Du wirst mit der Unterstützung der fabelhaften Bergmoosbacher Dorfgemeinschaft sehr gut ohne mich klarkommen. Entscheide selbst, was zu tun ist, das hast du in den vergangenen Jahren ja auch ohne mich hinbekommen.«
Daniel war zu erschöpft, um sich auf eine weitere sinnlose Auseinandersetzung mit seinem Bruder einzulassen. Er antwortete nur: »Wenn du bei deiner Meinung bleibst, dann machen wir es so. Du hörst dann von mir.«
»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte der ältere Bruder und beendete rasch das Telefonat. Das leise »Servus, Robert« am anderen Ende bekam er schon nicht mehr mit. Mit langen, energischen Schritten ging er zu der Abendgesellschaft zurück und suchte seine Freundin, die mit ihm nach Neuseeland geflogen war.
Lilly von Glasbach war eine zarte, auffallend gut aussehende junge Frau, nach der sich viele Männer umdrehten. Ihre langen dunklen Haare trug sie an diesem Abend mit exotischen Blumen aufgesteckt, und ihre dunkelgrünen Augen funkelten mit den echten Smaragdohrringen um die Wette. Sie trug ein kurzes, schulterfreies Abendkleid aus champagnerfarbener Wildseide und sah umwerfend aus. Neben ihrer Schönheit besaß Lilly Humor, Klugheit und Mitgefühl, und sie war eine aufmerksame Zuhörerin.
Gerade ihr Mitgefühl war es, was sie zu dem deutlich älteren Robert hingezogen hatte. Nach außen mochte er oft den kalten Geschäftsmann zeigen, aber aus seinen Erzählungen wusste sie, dass darunter noch etwas anderes lag.
Nach allem, was sie von ihm wusste, musste Robert eine schwierige Kindheit gehabt haben, in der ihn der jüngere Bruder ständig zur Konkurrenz herausforderte. Vor allem vom Vater verwöhnt und verzogen, hatte Daniel es verstanden, sich selbst ins rechte Licht zu setzen und den Bruder zu verdrängen. Kein Wunder, dass Robert Bergmoosbach so früh verlassen hatte, um sich ein eigenes Leben aufzubauen.
Als Lilly ihn jetzt durch die Menge der Gäste auf sich zukommen sah, erkannte sie an seinem verschlossenen Gesichtsausdruck, dass sein Telefonat kein angenehmes gewesen war. Sie legte leicht ihre Hand auf den Arm und schaute ihn freundlich an. »War es etwas Wichtiges?«, fragte sie leise.
»Nein«, antwortete Robert kurz. »Nur mein nerviger Bruder. Er wollte Organisatorisches mit mir besprechen.«
»Hat er denn nicht an die Zeitverschiebung gedacht? Er muss doch damit rechnen, dass du jetzt mit anderem beschäftigt bist, es ist später Abend«, sagte Lilly verwundert.
»Das kümmert meinen Bruder nicht«, erwiderte Robert hart. »Wenn Daniel etwas will, dann fragt er nicht, ob es anderen recht ist. Aber lassen wir uns dadurch nicht den Abend verderben, mein Schatz. Komm mit hinüber an die Bar, dort habe ich jemanden gesehen, den ich dir gern vorstellen möchte.« Mit einem charmanten Lächeln legte er Lilly seine Hand um den Ellenbogen und führte sie an die festlich geschmückte Bar.
Im Laufe der Nacht tauchte ungebeten die Erinnerung an das Telefonat wieder auf, aber Robert schob diese Gedanken energisch zur Seite. Es war fast zehn Jahre her, dass er seinen Vater gesehen hatte. Franz Berger war ihm schon lange völlig fremd geworden und hatte in einer anderen Welt gelebt. Er konnte nicht um seinen Vater trauern und hatte nicht das Bedürfnis, zur Beerdigung zu reisen.
Viel mehr beschäftigte Robert der Gedanke, was Lilly von seiner Entscheidung halten würde. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern und würde sein Verhalten nicht verstehen können. Hätte sie eine solche Nachricht erhalten, sie säße im nächsten Flieger und wenn die Reise drei Tage dauerte. Robert musste sehr genau überlegen, was und wie viel er vom Telefonat mit seinem ungeliebten Bruder erzählen würde.
Gekonnt verdrängte er den Gedanken und konzentrierte sich auf seinen Auftraggeber, einen Schweizer Investor, der viel Geld für den Bau einer Luxusferienanlage in der Nähe von Christchurch ausgeben würde. Zufrieden stellte er wieder einmal fest, dass Lillys Klugheit und ihr Charme eine unwiderstehliche Mischung war, die ihm bei privaten und geschäftlichen Anlässen zugute kam. Das wollte er unter keinen Umständen gefährden.
*
Fast zwanzigtausend Kilometer entfernt in Roberts Heimatdorf hatte niemand den Kopf für lukrative Geschäftsabschlüsse bei edlem Champagner. Im Gutshaus ›Silberwald‹ kamen viele Menschen zusammen, die sich von Franz Berger verabschieden und seinem jüngsten Sohn ihr Beileid ausdrücken wollten. Rautende bekam liebevolle Unterstützung von Traudel und anderen Frauen, die ihr bei der Arbeit halfen. Im Haus herrschte leise Betriebsamkeit, und nach und nach organisierte Daniel alles für den letzten Weg seines Vaters so, wie der es sich gewünscht hatte. An einem schönen Sommertag, als die Sonne den Zenit überschritten hatte, wurde Franz Berger neben seiner geliebten Frau Sybille beigesetzt.
Das halbe Dorf war auf den Beinen, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Daniel erlebte den Tag bewegt und getröstet durch die aufrichtige Anteilnahme der Familie, Freunde und Nachbarn. Es war schön, das Leben des Vaters noch einmal so gewürdigt zu sehen. Franz Berger war ein beliebter Mann in der Gemeinde gewesen, selbst dann noch, als ihn ein Unfall bei der Forstwirtschaft ans Haus fesselte. Dieser Arbeitsunfall hatte das Leben des Gutsbesitzers und seines jüngsten Sohnes von Grund auf verändert, und jetzt stand Daniel wieder an einem Wendepunkt.
Rautende hatte die letzten Gäste zur Tür begleitet und trat nun neben Daniel, der erschöpft in der Eingangshalle stand und auf den alten Tisch starrte, auf dem sich eine Fülle an Blumen und Briefen drängte. Sie schob ihren Arm unter den des jungen Mannes und drückte ihn sachte.
»Es ist doch schön, dass alle gekommen sind. Das hilft, gell?«, sagte sie liebevoll.
»Es sind eben nicht alle gekommen«, antwortete Daniel ungewohnt heftig. »Robert ist nicht hier, sondern bei seinem ach, so wichtigen Auftrag am anderen Ende der Welt.«
Rautende lehnte müde den Kopf an seine Schulter und wischte sich mit der Hand über die brennenden Augen. »Du kennst ihn doch, den Robert«, sagte sie leise. »Da ist wohl nichts zu machen.«
»Das werden wir sehen«, knurrte Daniel. Er fühlte sich unendlich müde und erschöpft, aber gleichzeitig auch wütend. So wütend wie er am Beerdigungstag seines Vaters nicht sein wollte, aber er konnte nichts dagegen tun. Er drückte Rautende kurz an sich, dann fragte er: »Kannst du mich beim Aufräumen für eine Viertelstunde entbehren? Ich muss dringend mit Robert sprechen.«
»Natürlich, Bub, nimm dir alle Zeit, die du brauchst«, antwortete sie sofort. Sie ging zu Traudel in die Küche, die dort den Abwasch vorbereitete. Die beiden Freundinnen arbeiteten Hand in Hand und unterhielten sich leise über den Tag, während Daniel ins Büro hinüberging, um seinen Bruder anzurufen.
Robert war eben vom Tennisplatz gekommen und unter die Dusche gegangen, als sein Handy klingelte. Er hatte gleich ein wichtiges Arbeitstreffen und war ärgerlich, weil ihn das Klingeln aus dem sanften Genuss der Regenwasserdusche herausriss.
»Lilly? Drück das Gespräch weg, ich bin jetzt für niemanden zu sprechen!«, rief er ungehalten in das luxuriöse Hotelzimmer hinüber.
Lilly griff nach dem Handy und zögerte, als sie den Namen im Display las. Was wollte Daniel denn schon wieder von seinem Bruder? Die junge Frau hatte mitbekommen, dass Daniel in der vergangenen Woche mehrere Male angerufen hatte. Jedes Mal war Robert hinterher wortkarg und verschlossen gewesen. Sie wusste nicht, worum es ging, aber es schien etwas Wichtiges zu sein, was Robert beschäftigte und bedrückte. Vielleicht wäre es jetzt nicht gut, das Gespräch einfach wegzudrücken?
Kurz entschlossen nahm Lilly das Gespräch entgegen. »Hallo? Hier Lilly von Glasbach am Apparat von Robert Berger«, meldete sie sich.
Für einen Augenblick herrschte überraschtes Schweigen, dann sagte eine angenehme, tiefe Männerstimme: »Hier ist Daniel Berger, ich möchte meinen Bruder sprechen.«
»Das geht im Augenblick nicht, Robert ist nicht zu erreichen«, erwiderte