Weiter als der Ozean. Carrie Turansky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carrie Turansky
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961224623
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diese Regel zu umgehen.

      Laura zwang ihre Stimme, ruhig zu bleiben. „Wenn Sie von unserer Situation hören, machen Sie bestimmt eine Ausnahme. Unser Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Er erlag den Verletzungen, die er sich bei einem Eisenbahnunglück zugezogen hatte. Unsere Mutter arbeitet seitdem als Näherin. Mein Bruder arbeitet nach der Schule als Botenjunge für einen Metzger, und ich arbeite als Kammerzofe. Wir tun unser Möglichstes, um unsere Familie über Wasser zu halten. Und wir kümmern uns gut umeinander. Aber leider wurde unsere Mutter vor einigen Wochen krank und musste ins Krankenhaus. Deshalb kann sie im Moment nicht arbeiten.“

      „Miss McAlister, jedes Kind in diesem Heim hat eine schwere, traurige Geschichte. Deshalb sind die Kinder ja hier in Grangeford. Ihre Situation bildet keine Ausnahme. Wir haben Regeln und Bestimmungen zum Schutz der Kinder aufgestellt, und an diese Regeln muss sich jedes Kind und jede Familie halten.“

      „Ja, das verstehe ich. Aber ich bin bereit, die Verantwortung für meine Geschwister zu übernehmen. Sie können den kostbaren Platz in Grangeford anderweitig vergeben. Ich werde mich um sie kümmern und für sie sorgen.“ Sie hatte zwar keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen wollte, aber sie musste versuchen, diese Frau zu überzeugen.

      Die Heimleiterin schürzte die Lippen. „Wie ich schon sagte: Ich kann Ihnen die Kinder nicht aushändigen, solange Sie mir keinen Beweis vorlegen, dass Sie Vormund der Kinder sind und dass Sie in der Lage sind, sie zu versorgen. Außerdem müssen Sie erst die angelaufenen Unterbringungskosten begleichen. Sind Sie dazu heute in der Lage?“

      Laura rutschte auf ihrem Stuhl vor. „Nein, das bin ich nicht. Aber es muss doch eine andere Möglichkeit –“

      „Es gibt keine andere Möglichkeit, Miss McAlister!“ Die Heimleiterin klappte die Akten zu und stand auf. „Sie dürfen Ihren Geschwistern schreiben, aber das ist der einzige Kontakt, der erlaubt ist. Entschuldigen Sie mich jetzt. Ich habe dringende Aufgaben zu erledigen.“

      Laura stand mit hämmerndem Herzen auf. „Bitte, Mrs Stafford, ich will sie doch nur sehen!“

      „Guten Tag, Miss McAlister.“ Die Heimleiterin schritt an Laura vorbei und verließ das Büro, ohne sich noch einmal umzudrehen.

      Lauras Gesicht glühte, und ihre Hände zitterten. Warum waren Regeln und Bestimmungen wichtiger als der Zusammenhalt einer Familie?

      Laura hob ihren Schirm auf und trat auf den Flur hinaus. Mrs Stafford glaubte vielleicht, sie hätte das letzte Wort, aber Laura würde nicht aufgeben! Sie würde einen Weg finden, Katie und Grace trotz der hartherzigen Entscheidung der Heimleiterin und derer unbeugsamen Regeln zu sehen. Und sie wollte dafür sorgen, dass sie keinen Tag länger als nötig in dieser kalten, unpersönlichen Einrichtung bleiben mussten.

      Sie schob die Haustür auf und trat hinaus. Ein feuchter Nebel hing über der Erde, und vom grauen Himmel fiel immer noch kalter Regen. Sie spannte ihren Schirm auf und marschierte über den Schotterweg zum Tor.

      Wie konnte man eine Vormundschaft beweisen? Wahrscheinlich brauchte sie dafür ein offizielles Dokument. Konnte sie selbst ein solches Dokument verfassen oder brauchte sie dazu die Hilfe eines Anwalts?

      Ihr fiel Andrew Frasiers Angebot ein, ihr zu helfen. Sie steckte die Hand in die Manteltasche und tastete nach seiner Visitenkarte.

      Sollte sie Kontakt zu ihm aufnehmen? Würde er ihren Fall übernehmen? War es überhaupt fair, ihn um seine Hilfe zu bitten, wenn sie kein Einkommen und kein Zuhause für ihre Geschwister hatte? Sie schüttelte den Kopf. Er war Anwalt, aber Wunder konnte auch er nicht vollbringen. Er konnte nicht einfach mit den Fingern schnippen und diese Probleme lösen. Sie musste jemand anderen finden, der ihr helfen konnte, ohne eine finanzielle oder anderweitige Bezahlung von ihr zu erwarten.

      Es musste doch eine Möglichkeit geben, ihre Geschwister aus dem Heim zu holen. Sie würde nicht ruhen, bis sie alle drei sicher in ihrer Obhut hatte.

      

      Katie huschte geräuschlos durch die Seitentür aus dem Haus und lief die Steinstufen hinab. Der Mond warf lange Schatten auf das Gras. Ein kalter Wind pfiff unter den Dachtraufen und erzeugte unheimliche Töne, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagten. Falls jemand sie um diese Uhrzeit hier draußen entdeckte, bekäme sie große Probleme. Sie blieb im Schatten und schlich mit vorsichtigen, leichtfüßigen Schritten um die Seite des Gebäudes herum.

      Diese Stunde, bevor das Licht ausgemacht wurde, war die einzige freie Zeit, die sie am Tag hatte. Die meisten Mädchen lagen auf ihren Betten und lasen oder unterhielten sich mit ihren Freundinnen. Sie hatte gesagt, sie müsse auf die Toilette, und war dann die Treppe hinabgeschlichen und durch die Seitentür ins Freie gehuscht.

      Sie warf einen schnellen Blick über ihre Schulter, dann lief sie über den Rasen auf den Schuppen zu und hoffte, eine Nachricht von Garth vorzufinden. Sie nahm eine leere Kiste, die neben dem Schuppen lehnte, und schleppte sie zur hinteren Wand. Mit einem stummen Gebet zum Himmel kletterte sie hinauf und tastete das Astloch ab. Ihre Finger ertasteten ein zusammengefaltetes Papier. Sie zog es heraus und hielt es ins helle Mondlicht.

      Liebe Katie,

      ich hoffe, diese Nachricht erreicht Dich rechtzeitig. Sie haben mich auf die Liste für Kanada gesetzt. Ich nehme den Platz eines anderen Jungen ein, der die medizinische Untersuchung nicht bestanden hat.

      Katie blinzelte und starrte die Worte an. Garth ging nach Kanada? Das konnte doch nicht sein! Wie konnte er auch nur daran denken, sie und Grace allein zu lassen? Sie hatte einige Mädchen gehört, die von Freundinnen im Heim erzählten, die nach Kanada geschickt worden waren. Aber sie hatte nicht verstanden, was das bedeutete. Warum wurden sie weggeschickt? Was hatten sie angestellt?

      Ich habe ihnen gesagt, dass Mama mich aus dem Heim holen wird und dass ich deshalb nicht auf diese Liste gesetzt werden will. Aber Mr Gumblich, der Betreuer der Jungen, hat den Kopf geschüttelt und gesagt, dass sie mich nicht aus dem Heim holen wird. Ich will nicht glauben, dass Mama tot ist, aber was sollte er sonst gemeint haben?

      Katies Herz stockte, und ihr wurde so schwindelig, dass sie fast von ihrer Kiste fiel. Sie musste sich am Zaun festhalten. Mama holte sie nicht aus dem Heim? Sie war tot? Wie konnte das sein? Würde man es ihr nicht sagen, wenn Mama gestorben war? Würde sie das nicht irgendwie spüren? Sie senkte den Blick und las den Rest, obwohl sie Mühe hatte, Garths Worte zu begreifen.

      Hast Du etwas von Mama gehört? Seit die Grahams sie ins Krankenhaus gebracht haben, sind fast zwei Wochen vergangen. Warum sagt uns niemand, was los ist? Ich dachte, dass Laura herkommen würde oder dass uns wenigstens Mrs Graham eine Nachricht schickt, wie es Mama geht, aber ich habe nichts gehört. Bitte schreib mir, was Du weißt.

      Sie sagen, dass es am Dienstag losgeht. Zuerst bringen sie uns in ein Kinderheim in Liverpool, wo wir uns auf die Überfahrt vorbereiten. Ich habe keine Ahnung, wie lange das dauern wird. Danach komme ich zusammen mit einer Gruppe Jungen auf ein Schiff und fahre nach Kanada. Ich habe Mr Gumblich gefragt, ob sie auch Mädchen mitnehmen, und er hat Ja gesagt. Ich finde, Du solltest versuchen, mit Grace auch auf diese Liste zu kommen. Damit wir alle zusammen fahren können.

      Katie hielt sich die Hand an den Mund, um nicht laut zu weinen. Garth wollte, dass sie darum bat, nach Kanada geschickt zu werden? Das war verrückt! Sie wollte nicht übers Meer fahren! Selbst wenn Mama sie nicht aus dem Heim holen konnte, würde bestimmt Laura kommen. Ihre Schwester würde sie nicht auf Dauer hierlassen. Katie schüttelte den Kopf und las weiter.

      Sie sagen, dass Kanada ein wunderschönes Land mit viel freier Natur ist. Dort wohnen Familien, die Jungen und Mädchen bei sich aufnehmen, damit diese ihnen auf ihrer Farm oder im Haushalt helfen. Mr Gumblich sagt, das sei eine echte Chance, und ich solle froh sein, dass ich den Platz dieses Jungen einnehmen kann. Er sagt, einige bezeichnen die Fahrt nach Kanada als goldene Brücke. Wir könnten uns dort ein neues Leben aufbauen.

      Aber ich muss ständig an Mama und unser Leben hier in London denken. Seit Papa gestorben ist, war es schwer, aber wir waren wenigstens zusammen und haben uns immer umeinander gekümmert. Es tut mir leid, dass ich versucht habe, Brot zu stehlen. Ich hatte keine Ahnung, dass ich damit diese schreckliche Kette an Ereignissen