Weiter als der Ozean. Carrie Turansky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carrie Turansky
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961224623
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      „Natürlich. Komm mit.“ Er deutete auf den Gang hinter sich. „Sie ist gleich hier.“ Er führte Laura in die warme, dampfende Küche, in der seine Mutter am Herd stand und in einem großen Topf rührte.

      Mrs Graham drehte sich um, als Laura eintrat. „Laura, ich bin so froh, dass du gekommen bist!“ Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, dann trat sie vor und umarmte Laura. Ihre Kleidung strömte den tröstenden Duft von Äpfeln und Zimt aus. Die Anspannung in Lauras Innerem löste sich ein wenig.

      Die liebevolle Umarmung und die herzliche Begrüßung schnürten Laura vor Rührung die Kehle zu.

      Mrs Graham trat zurück. „Warst du schon im Krankenhaus?“

      „Ja. Ich bin hineingekommen, obwohl die Besuchszeit vorbei war.“ Laura schilderte ihren Besuch bei ihrer Mutter und erklärte dann, was passiert war, als sie in die Schneiderei gegangen war und mit Mrs Palmer gesprochen hatte.

      Jacobs Gesicht rötete sich vor Zorn. „Wie konnte sie dich nur so herzlos behandeln?“

      Mrs Graham stieß ein leises Seufzen aus. „Ethel Palmer hat sich immer noch nicht vom Tod ihres Mannes und ihres kleinen Sohnes erholt. Sie ist wütend wegen der Vergangenheit und hat Angst vor der Zukunft. Deshalb sagt und tut sie leider manchmal Dinge, die lieblos und verletzend sind.“

      Jacob gab einen knurrenden Ton von sich. „Das ist keine Entschuldigung dafür, dass sie Laura aus der Wohnung ihrer Familie aussperrt.“

      „Nein, natürlich nicht. Aber wir wollen davon nicht unser Wiedersehen trüben lassen.“ Mrs Graham wandte sich an Laura. „Du kannst gern bei uns wohnen, wenn es dir nichts ausmacht, dir mit Sarah ein Bett zu teilen.“

      Eine große Erleichterung erfasste Laura. „Das macht mir überhaupt nichts aus. Vielen Dank.“

      „Das ist das Mindeste, was ich für die Tochter einer so lieben Freundin tun kann.“ Mrs Graham warf einen Blick hinter sich. „Wusstest du, dass sie mir diese Vorhänge genäht hat? Sind sie nicht hübsch? Sie hat mich nicht mal den Stoff zahlen lassen.“

      Laura betrachtete die zartgelben Vorhänge mit der Rüschenschabracke am Küchenfenster. Das sah ihrer Mutter ähnlich. Sie war so freundlich und großzügig und überlegte immer, wie sie ihre Gaben einsetzen konnte, um andere zu segnen, obwohl sie selbst so wenig hatte. Sie verdiente ein so viel besseres Leben als das, was sie tatsächlich hatte. Laura war entschlossen, einen Weg zu finden, um ihrer Mutter und ihren Geschwistern in Zukunft das Leben zu erleichtern.

      Jacob trat einen Schritt näher auf Laura zu. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wir kümmern uns um dich, Laura.“ In seinem Blick lag mehr als nur nachbarschaftliche Freundlichkeit.

      Ihr stieg die Hitze in die Wangen, und sie lächelte flüchtig. Sie brauchte die Hilfe der Grahams, aber sie wollte Jacob keine falschen Hoffnungen machen. Er war ein netter junger Mann, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie je mehr als Freundschaft für ihn empfinden würde.

      4

      Andrew zog unauffällig die Uhr aus seiner Westentasche, öffnete sie unter dem Esstisch und schaute nach, wie spät es war. Er verkniff sich ein Seufzen und versuchte, sich auf das Gespräch am Tisch zu konzentrieren. Mit großer Anstrengung war es ihm gelungen, in der letzten Stunde einige höfliche Bemerkungen zum Gespräch beizutragen, aber er verlor allmählich die Geduld.

      Wenn sie endlich den letzten Gang des Menüs hinter sich bringen würden, könnte er sich entschuldigen und sich in die Bibliothek zurückziehen. Er würde den Rest des Abends viel lieber mit der aktuellen Ausgabe des Juristenjournals verbringen, als sich die Klagen von Tante Eloise über die Arthritis in ihren Knien oder die Einfallslosigkeit ihrer Hutmacherin anzuhören.

      Wenn nur seine Schwester Olivia mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern hier wäre! Sie beherrschte es immer gut, das Gespräch am Laufen zu halten. Aber so kurz nach der Geburt ihres jüngsten Sohnes hatten sie und ihr Mann beschlossen, dieses Jahr an Ostern lieber zu Hause zu bleiben, als die Familie in Bolton zu besuchen. Andrew bedauerte ihre Entscheidung.

      „Ich hoffe doch sehr, dass ihr für die Saison nach London kommt.“ Eloise tupfte ihren Mund mit der Serviette und ließ ihren Blick in die Runde wandern. „Die Sommerausstellung der Königlichen Akademie wird bald eröffnet.“

      Sein Vater schaute seine Schwester über den Tisch finster an. „Ich bin kein Anhänger von Kunstausstellungen und habe nicht vor, diese zu besuchen.“

      „Aber, George, das erwartet man von dir. Du solltest dich blicken lassen.“

      „Ich verabscheue den ganzen Lärm und Trubel in der Stadt.“ Er richtete seinen kühlen Blick auf Andrew. „Ihr wisst, dass ich das Landleben bevorzuge. Auf die erdrückenden Menschenmassen und die schmutzigen Straßen in London kann ich gerne verzichten.“

      Andrew biss die Zähne zusammen. Er würde jetzt nicht mit seinem Vater über die Vorzüge des Stadtlebens gegenüber dem Leben auf dem Land diskutieren.

      „Ich kann dir nur zustimmen.“ Onkel Bertram nickte Vater zu. „Das Landleben ist viel friedlicher. Frische Luft, schöne Spaziergänge in der Natur. Was könnte man daran auszusetzen haben?“

      „Ich genieße das Leben auf dem Land auch“, redete Tante Eloise weiter, „aber wenn du deine Beziehungen pflegen willst, musst du an der Saison in London teilnehmen.“

      Sein Vater schnaubte. „Ich habe nicht den Wunsch, Beziehungen zu Leuten zu pflegen, die die besten Monate des Jahres damit vergeuden, von einer Veranstaltung zur nächsten zu laufen und zu versuchen, die anderen Narren zu beeindrucken, die auch nichts Besseres zu tun haben.“

      Andrews Mutter warf Andrew einen flehenden Blick zu. Sie wollte offensichtlich, dass er sich am Gespräch beteiligte und versuchte, die Stimmung aufzulockern.

      Er räusperte sich. „Ich freue mich darauf, die Henley Royal Regatta und die Royal Ascot zu besuchen. Vater, diese beiden Regatten haben dir in der Vergangenheit auch gefallen. Vielleicht überlegst du dir, sie dieses Jahr zu besuchen.“ Er wollte hinzufügen, dass sie gemeinsam hingehen könnten, aber so viel wagte er nicht zu hoffen. Sein Vater lud ihn nie ein, ihn zu begleiten, wenn er in die Stadt oder sonst irgendwohin fuhr. Er jagte allein, er angelte allein und er reiste allein. Er war ein verschlossener Einzelgänger.

      „Vielleicht gehe ich zur Royal Ascot, aber nur am ersten Tag“, erwiderte sein Vater. „Ich sehe keine Veranlassung, die anderen vier Tage auch noch zu bleiben.“

      „Willst du nur für diese eine Nacht dein Haus in London bezugsfertig machen?“, fragte Tante Eloise.

      „Nein, ich übernachte im Club und fahre am nächsten Morgen zurück.“

      Andrew warf einen Blick auf seine Mutter. Verletzten sie die Bemerkungen seines Vaters? Ihre Miene verriet nicht viel, aber Andrew nahm ihretwegen Anstoß an seiner Rücksichtslosigkeit. Kam sein Vater denn nicht auf den Gedanken, dass sie im Frühling oder Sommer vielleicht gern Ascot oder eine der anderen Veranstaltungen in London besuchen würde? Andrew schüttelte den Kopf. Er hatte die unsensible Art seines Vaters satt.

      „Nun, mich freut es, wenn du nach Ascot kommst“, schob Eloise nach. „Wenn du dich dort zeigst, nimmst du wenigstens den Gerüchten, du wärst ein griesgrämiger Einsiedler geworden, den Wind aus den Segeln.“

      Mutter zuckte kurz und senkte den Blick auf ihren Teller.

      Vaters Gesicht lief rot an. „Also wirklich, Eloise! Du kümmerst dich viel zu sehr darum, was andere denken!“

      Onkel Bertram warf seiner Frau einen kurzen Blick zu, dann sah er Andrews Vater an. „Ich verstehe deine Abneigung, dich während der Saison in der Stadt aufzuhalten. Bei den vielen Menschen und dem ständigen Lärm kann es in London unerträglich sein, manchmal sogar regelrecht gefährlich.“

      Eloise beugte sich vor. „Bertram hat leider recht. Erzähle ihnen, was letzte Woche passiert ist.“

      „Irgend so ein kleiner Taschendieb hat mir vor einigen Tagen meine