Henry legte den Schläger auf seine Schulter. „Schieben wir es darauf, dass ich in Gedanken ein wenig woanders bin.“
„Wo bist du in Gedanken?“ Andrew sammelte zwei weitere Bälle ein und ging zur Seite des Spielfelds. Er folgte Henry durch das Tor und in den Schatten der großen Zeder.
Henry deutete mit dem Kopf zu der Bank unter dem Baum. „Setzen wir uns.“
Sie schlenderten auf die Bank zu, und Andrew warf Henry einen fragenden Blick zu. Ihre gemeinsame Reise nach Italien hatte ihre Beziehung vertieft. Sie waren jetzt nicht mehr nur Kollegen, sondern auch Freunde. Obwohl Henry zehn Jahre älter war als Andrew, hatten sie einen ähnlichen Hintergrund und gemeinsame Interessen, die ihre Freundschaft festigten.
Henry setzte sich auf die Holzbank. „Gleich nach unserer Rückkehr aus Italien habe ich einen Brief von Reginald Hayworth erhalten.“
Andrew setzte sich neben ihn. „Ist der nicht Ministerialrat im Innenministerium?“
„Ja. Er hat auch engen Kontakt zur Königsfamilie, wodurch er viel Einfluss genießt.“
„Worum geht es in dem Brief?“
„Offenbar hat Richard Jansen einen Schlaganfall erlitten und kann seine Untersuchung bezüglich der Kinderemigration nicht fortsetzen. Hayworth will, dass ich seinen Platz einnehme. Er hat mir ein dickes Paket Dokumente und Informationen geschickt, die Jansen bereits zusammengetragen hat.“
Andrew nickte nachdenklich. „Ja, ich weiß Bescheid über die Kinderemigration. Unsere Familie unterstützt seit einigen Jahren die Arbeit von Dr. Barnardo.“ Wenigstens er und seine Mutter taten das. „Was ist der Anlass für die Untersuchung?“
„Es gibt seit Jahren Kontroversen zwischen den Befürwortern und den Gegnern dieses Verfahrens.“
„Es überrascht mich, dass jemand dagegen ist. Ich habe immer gehört, dass sowohl Kanada als auch Großbritannien von der Kinderemigration profitieren. Wir holen die mittellosen Waisen aus den Armenhäusern und von den Straßen und ermöglichen diesen Kindern eine Chance auf ein besseres Leben. Und Kanada profitiert davon, da dadurch die Bevölkerung des Landes wächst.“
„Das war auch meine Meinung. Aber etliche unglückliche Vorkommnisse in Kanada haben dazu geführt, dass einige, darunter Ihre Majestät Königin Alexandra diese Praxis infrage stellen.“
Andrew runzelte die Stirn. „Welche unglücklichen Vorkommnisse?“
„Manche Kinder verschwinden, andere werden von den Leuten, die sie aufgenommen haben, vernachlässigt oder misshandelt.“ Henrys Stirn zog sich in Falten. „Ich fürchte, die Kinderemigration hat auch eine dunkle Seite, die von denen, die davon profitieren, verschwiegen wird.“
„Wie meinst du das?“
„Unsere Regierung zahlt den Organisationen, die die Kinder aussenden, zwei kanadische Dollar pro Kind. Kanada steuert noch einmal den gleichen Betrag bei. Die Aufnahmeheime berechnen den Familien, die ein Kind aufnehmen wollen, ebenfalls eine Gebühr. Wenn man dieses Geld mit der Anzahl der Kinder, die nach Kanada emigrieren, multipliziert, sprechen wir von einer beträchtlichen Summe.“
Andrew nickte ernst. „Gab es nicht früher schon einmal eine staatliche Untersuchung? Ich glaube mich zu erinnern, dass ich im Zusammenhang mit meinen juristischen Studien mal etwas darüber gelesen habe.“
Henry nickte. „Vor ungefähr dreißig Jahren wurde ein gewisser Andrew Doyle beauftragt, die Sache zu untersuchen und einen Bericht über seine Untersuchungen zu schreiben. Er ist nach Kanada gefahren und hat mehrere Aufnahmeheime und einige Kinder, die in Familien untergekommen waren, besucht. Als der Bericht veröffentlicht wurde, löste das einigen Wirbel aus.“
„Zu welchem Ergebnis ist Doyle gekommen?“
„Er sah die ganze Sache sehr kritisch – sowohl die Leute, die die Kinder verschickten, als auch das ganze Prozedere. Er vertrat den Standpunkt, dass das Programm den Kindern nicht guttut und mehr Schaden anrichtet, als Gutes zu bewirken. Der Staat solle die Kinderemigration verbieten, war seine Empfehlung, oder wenigstens deutliche Veränderungen am Verfahren vornehmen.“
„Was waren seine Hauptbedenken?“
„Er schrieb, dass die Aufnahmeheime genauer überprüft werden müssten, und verlangte ein besseres Kontrollsystem für die Betreuung der Kinder innerhalb der Familien.“
„Und wurden diese Vorschläge umgesetzt?“
Henry schüttelte den Kopf. „Anfangs haben einige Organisationen Schritte eingeleitet, um die Situation zu verbessern, aber soweit ich weiß, wurde nicht viel geändert. Die Zahl der Kinder, die nach Kanada geschickt wurden, steigt seitdem stetig an. Ich fürchte, in den meisten der besorgniserregenden Punkte hat sich nichts verbessert. Deshalb wurde Hayworth gebeten, eine offizielle staatliche Untersuchung in die Wege zu leiten.“
Andrew strich mit dem Finger über seinen Tennisschläger und dachte über Henrys Worte nach. „Ich habe Dr. Barnardo sprechen gehört und eine Darbietung einiger Kinder, die er betreute, gesehen. Es war recht beeindruckend. Besonders wenn man bedenkt, dass die meisten dieser Kinder auf der Straße gelebt hatten, bevor sie in Heime aufgenommen wurden.“
„Dr. Barnardo war bis zu seinem Tod der unumstrittene Kopf der Kinderemigration, aber er war nicht der Einzige, der Kinder nach Kanada schickte. Anscheinend wurden schon mehr als fünfzigtausend Kinder ins Ausland gebracht.“
Andrew sah seinen Freund erstaunt an. „Mir war nicht bewusst, dass die Zahl so hoch liegt.“
„Ja, es ist eine überraschend hohe Zahl, aber die Kinderemigration wird schon seit vielen Jahren betrieben. Ich glaube, Dr. Barnardo selbst hat die ersten Kinder Anfang der 1880er-Jahre nach Kanada geschickt. Und er selbst trat damit in die Fußstapfen von Annie MacPherson, Maria Rye und einigen anderen.“
„Das klingt, als gäbe es dieses Verfahren schon eine ganze Weile.“
Henry nickte. „Ich habe mich in das Thema eingelesen. Ich glaube, die Leute, die damit anfingen, verfolgten gute Absichten, und das gilt wahrscheinlich auch heute noch für die meisten. Aber diese Praxis hat riesige Ausmaße angenommen, und angesichts der hohen Zahl an Kindern, die emigrieren, kann man sich leicht vorstellen, dass dabei manche durch das Raster fallen und ein trauriges Schicksal erleben.“
Andrew wurde ernst. Waren dies Einzelfälle oder litten Hunderte oder gar Tausende Kinder, weil es keine geeigneten Richtlinien und keine Kontrollen gab?
„Und wirst du die Untersuchung übernehmen, Henry?“
„Es ist eine wichtige Aufgabe. Jemand muss die Sache untersuchen und einen fairen und unvoreingenommenen Bericht schreiben. Diese Person muss ungebunden sein, um reisen und in diesem Frühling und Sommer eine gewisse Zeit in Kanada verbringen zu können.“ Henry legte seinen Tennisschläger auf seine Knie. „Ich bin bereit, diesen Auftrag zu übernehmen, aber ich hätte gern deine Unterstützung.“
Andrew versuchte, in der Miene seines Freundes zu lesen. „Du willst, dass ich dich begleite?“
„Ja. Ich denke, wenn wir es gemeinsam anpacken, können wir viel effizienter arbeiten. Wir müssen einige Kinderheime hier in London und in Liverpool besuchen, bevor wir nach Kanada fahren, um Informationen zu sammeln und die dortige Situation zu bewerten. Nach unserer Rückkehr müssen wir unsere Ergebnisse in einem Bericht zusammenfassen und Empfehlungen abgeben. Hoffentlich sind wir bis zum Ende des Sommers damit fertig.“
Andrew schmunzelte. „Das ist alles?“
„Auf uns kommt viel Arbeit zu. Ich schätze, dass wir hier alles Notwendige regeln und in zwei bis drei Wochen nach Kanada aufbrechen können.“
„Du denkst, wir können alle nötigen Reisevorkehrungen so rasch treffen?“
„Ich beauftrage Phillips noch heute,