Weiter als der Ozean. Carrie Turansky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carrie Turansky
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961224623
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vorbei. Mrs Palmer stand auf einer Trittleiter hinter der Verkaufstheke und stellte eine Schachtel in ein oberes Regalfach.

      Laura nahm ihren ganzen Mut zusammen und schob die Ladentür auf. Die Glocke über der Tür klingelte. Mrs Palmer drehte sich um, und ihre Miene wurde hart.

      „Guten Abend, Madam.“ Laura zwang sich zu einem fröhlichen Tonfall, da sie hoffte, dadurch den eisigen Empfang der Schneiderin abmildern zu können.

      Mrs Palmer stieg von der Trittleiter. Ihre Miene blieb unverändert. „Was machst du hier?“

      „Ich bin nach London gekommen, um meine Mutter zu besuchen.“

      „Hast du sie schon gesehen?“

      „Ja, Madam. Ich komme gerade aus dem Krankenhaus.“

      „Wie geht es ihr?“ Der Tonfall der Frau enthielt nicht das geringste Mitgefühl.

      „Ihr Zustand bessert sich. Aber sie braucht trotzdem noch Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen.“ Laura blickte sich im Laden um und wünschte, Anna und Liza, Mrs Palmers Töchter, wären hier. Wenn sich Mrs Palmer erinnerte, dass sie und Laura Freundinnen waren, wäre sie vielleicht eher bereit, ihr zu helfen. „Ich habe versucht, in unsere Wohnung zu kommen, aber die Tür zum Treppenhaus ist abgesperrt, und ich habe keinen Schlüssel.“

      Mrs Palmers Blick wurde zornig und der Zug um ihre Lippen noch härter.

      „Ich bin einige Tage in London und ich brauche einen Platz, an dem ich wohnen kann.“

      „Du kannst nicht in der Wohnung bleiben, es sei denn, du hast vor, die ausstehende Miete zu zahlen.“

      Lauras Magen zog sich zusammen. „Die Miete wurde nicht gezahlt?“

      „Seit Anfang April nicht mehr. Wenn deine Mutter die Miete nicht bald zahlt und wieder zur Arbeit kommt, lasse ich die Wohnung räumen und ihre Sachen auf die Straße werfen.“

      „Oh nein! Bitte tun Sie das nicht! Ich kann die Miete zahlen.“ Laura griff in ihre Tasche, holte eine Fünf-Pfund-Note, drei Ein-Pfund-Noten und einige Münzen heraus und hielt sie der Frau hin. Das war fast alles, was von dem Geld, das ihr Andrew Frasier heute gegeben hatte, noch übrig war.

      Mrs Palmer hob schnaubend das Kinn. „Die Miete beträgt zwölf Pfund.“

      Lauras Kinnlade klappte herunter. „Zwölf Pfund!“

      „So ist es. Ich habe von deiner Mutter nur sechs verlangt, aber diesen Nachlass kann ich ihr erst wieder gewähren, wenn sie zurückkommt und ihre Arbeit wieder aufnimmt.“

      „Das wird sie bestimmt so bald wie möglich tun.“

      „Und wann ist das?“

      „Ich … ich weiß es nicht.“

      „Ich kann ihre Stelle nicht ewig frei halten. Wir arbeiten uns die Finger wund, weil wir jetzt alle Näharbeiten selbst erledigen müssen.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Wenn deine Mutter nicht bis zum Ende des Monats wieder zur Arbeit kommt, muss ich eine andere Frau einstellen, die ihre Arbeit übernimmt.“

      Der Druck auf Lauras Brust verstärkte sich. Sie bekam kaum noch Luft. Es musste doch eine Möglichkeit geben, vernünftig mit dieser Frau zu sprechen und sie zu überreden, ihnen mehr Zeit zu lassen. „Meine Mutter ist eine ausgezeichnete Näherin. Eine so gute Näherin werden Sie kaum finden.“

      „Das mag sein, aber ich habe genug eigene Sorgen. Ich kann mich nicht auch noch um die Sorgen deiner Mutter kümmern.“

      Lauras Gesicht begann zu glühen. Sie biss die Zähne zusammen. Wie konnte Mrs Palmer so gefühllos sein?

      „Du brauchst mich nicht so böse anzusehen. Ich werde meine Meinung nicht ändern. Ich habe ein Geschäft, das laufen muss. Und ich muss an mich und meine Töchter denken.“

      „Ihre Töchter würden unsere Notlage bestimmt verstehen und helfen wollen.“

      Mrs Palmer schnaubte. „Du kannst von mir nicht erwarten, dass ich meinen eigenen Kindern das Essen wegnehme, um es dir und deiner Familie zu geben!“

      „Das verlange ich doch gar nicht. Meine Mutter ist krank. Wahrscheinlich aufgrund der vielen Arbeitsstunden und der ungesunden Arbeitsbedingungen hier.“

      Die Miene der Frau wurde jetzt bedrohlich. „Gib mir nicht die Schuld für die Krankheit deiner Mutter! Sie hat sich schon immer jede Krankheit eingefangen.“

      „Meine Mutter ist eine loyale, fleißige Witwe, die ihr Möglichstes tut, um ihre Kinder zu versorgen. Ich dachte, gerade Sie würden ihre Situation verstehen und hätten ein wenig mehr Mitgefühl. Aber ich habe mich offenbar getäuscht.“

      „Du bist ein unhöfliches, undankbares Mädchen! Ich höre mir dein unsinniges Gerede nicht länger an.“ Mrs Palmer nahm ihren Hut und Mantel vom Haken an der Wand. „Geh jetzt! Du wirst heute Nacht nicht in der Wohnung schlafen!“

      „Bitte, Mrs Palmer. Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll!“

      „Das ist nicht mein Problem.“ Sie fuchtelte mit der Hand. „Jetzt verlass meinen Laden, bevor ich es mir anders überlege und euch nicht bis zum Monatsende Zeit gebe, die Miete aufzubringen.“

      Laura fuhr auf dem Absatz herum, schritt aus dem Laden und schlug erbost die Tür zu, die klirrend ins Schloss fiel. Diese Frau hatte kein Recht, sie so zu behandeln. Sie dachte an die Worte, die sie Mrs Palmer gern an den Kopf geworfen hätte. Aber als sie zwanzig Schritte gegangen war, war ihr Ärger verraucht. Ein eigensinniger Kloß bildete sich in ihrer Kehle, und ihr schossen Tränen in die Augen.

      Wohin sollte sie jetzt gehen? Seit ihr Vater gestorben war und sie in diesen Stadtteil gezogen waren, hatten sie den Kontakt zu fast allen ihrer alten Freunden verloren. Sie hatte nur wenige Monate hier gewohnt, bevor sie die Stelle als Dienstbotin angenommen hatte. Wer würde ihr helfen?

      Andrew Frasier kam ihr in den Sinn, aber der war auf Bolton und würde erst Anfang nächster Woche nach London zurückkehren. Wenn sie eine Lösung finden wollte, musste sie ihre rasenden Gedanken beruhigen und logisch nachdenken. Es gab doch sicher jemanden, der Mitleid mit ihr hatte und sie bei sich schlafen ließ, während sie ihrer Mutter und ihren Geschwistern half.

      Mrs Grahams Brief kam ihr in den Sinn. Vielleicht hatte die Freundin ihrer Mutter mehr Mitgefühl als Mrs Palmer. Laura brach in die Richtung auf, in der die Grahams wohnten. Aber bei jedem Schritt musste sie gegen ihre Verzweiflung ankämpfen.

      Fünf Minuten später klopfte sie an die Tür der Grahams und hielt den Atem an. Wenn Mrs Graham sie wegschickte, müsste sie auf den Stufen vor der Kirche oder auf einer Parkbank schlafen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und sie strich unbehaglich über ihre Mantelärmel.

      Die Tür ging auf, und Jacob Graham stand vor ihr. Seine braunen Augen wurden groß, und ein Lächeln trat in sein Gesicht. „Laura! Was für eine Überraschung! Komm herein.“ Er trat zurück und zog die Tür weiter auf. „Gib mir deinen Koffer.“

      „Danke.“ Sie gab ihm den Koffer, und er stellte ihn gleich neben der Tür auf den Boden. „Ist deine Mutter zu Hause?“

      „Ja, sie ist in der Küche und kocht das Abendessen.“ Er betrachtete sie mit einem bewundernden Blick. „Es ist so schön, dich wiederzusehen, Laura.“

      „Danke. Es ist auch schön, dich wiederzusehen.“ Sie betrachtete Jacob als Freund, aber bevor sie weggegangen war und ihre Arbeitsstelle angetreten hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, dass er sich mehr erhoffte. Diesen Gedanken verdrängte sie schnell. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich über Jacobs Gefühle oder seine Absichten den Kopf zu zerbrechen. „Ich habe den Brief von deiner Mutter erhalten und bin so schnell wie möglich hergekommen. Ich war gerade im Krankenhaus.“

      „Wie geht es deiner Mutter?“

      „Sie sieht so blass und dünn aus, dass ich sie kaum erkannt habe. Aber sie hat nicht gehustet. Und sie sagt, dass sich ihr Zustand bessert.“

      „Das hat meine