Sie hob den Blick und schaute den alten Mann an. „Dann würde ich gern meine Schwestern besuchen.“
Er nickte kurz und holte einen großen metallenen Schlüsselring aus seiner Tasche. Das Regenwasser tropfte von seiner Hand, während er den richtigen Schlüssel suchte. „Hier ist er.“ Er sperrte das Tor auf. Die Angeln quietschten laut, als er es aufzog. „Kommen Sie bitte mit.“
Sie folgte ihm über den Schotterweg und hatte Mühe, den Pfützen auszuweichen. Dann stieg sie die Steinstufen hinauf, die zu der großen Holztür führten.
„Wenn Sie hier klopfen, kommt jemand und lässt Sie hinein.“ Er stieg die Stufen wieder hinab, doch dann blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu ihr um. „Ich wünsche Ihnen alles Gute. Noch einen schönen Tag, Miss.“ Dann drehte er sich um und marschierte auf dem Schotterweg davon.
Laura drehte sich zu der Tür um und klopfte dreimal. Einige Sekunden später ging die Tür auf, und eine junge Frau mit ernsten Augen stand vor ihr. Sie schien älter zu sein als Katie, aber jünger als sie selbst. Vielleicht sechzehn oder siebzehn. Ihr hellbraunes Haar war geflochten und am Kopf zu einem Kranz hochgesteckt. Sie trug ein schlichtes braunes Kleid mit einer langen hellgrauen Schürze. Ihre abgewetzten braunen Schuhe spitzten unter ihrem Rock hervor.
„Guten Morgen. Ich heiße Laura McAlister. Ich würde gern meine Schwestern Katie und Grace besuchen.“
Das Mädchen zog die Brauen hoch. „Das müssen Sie mit der Heimleiterin klären. Ich weiß nicht, ob Besuche erlaubt sind.“
Laura nickte. „Gut. Wenn Sie mir den Weg zeigen, würde ich gern mit ihr sprechen.“
Das Mädchen zog die Tür auf. Laura klappte ihren Schirm zusammen und schüttelte das Wasser ab, bevor sie eintrat. Trotzdem hinterließ sie eine Wasserspur auf dem grauen Fliesenboden, als sie dem Mädchen durch den trüben Gang folgte. Vor der letzten Tür auf der rechten Seite blieben sie stehen. Das Mädchen klopfte.
„Herein“, rief eine Frauenstimme.
Das Mädchen trat beiseite, bedachte Laura mit einem kurzen ausdruckslosen Blick und ging dann weg.
Laura nahm einen tiefen Atemzug, straffte die Schultern und betrat das Büro der Heimleiterin.
Eine ältere Frau saß hinter einem großen Holzschreibtisch. Bücherregale füllten die Wand hinter ihr. Die schweren marineblauen Vorhänge um das Fenster sperrten den größten Teil des Tageslichts aus, das das Büro selbst an einem so verregneten Tag ein wenig erhellt hätte. Stattdessen verbreitete eine Petroleumlampe, die in der Ecke auf dem Schreibtisch stand, ein trübes gelbes Licht.
Die Frau hob den Kopf. Ihre harte, unfreundliche Miene passte perfekt zu ihrem dunkelgrauen Kleid und ihrer teigigen Gesichtsfarbe. Ihr grau durchzogenes Haar war in der Mitte gescheitelt und zu einem Knoten zurückgezogen. Eine kleine Drahtbrille saß auf ihrer Nasenspitze. Auf einem Schild auf dem Schreibtisch stand Mrs Stafford, Heimleitung. Ohne aufzustehen, musterte sie Laura von Kopf bis Fuß.
„Guten Morgen, Madam. Ich heiße Laura McAlister. Ich habe gehört, dass meine Schwestern Katie und Grace McAlister hier im Grangeford-Kinderheim wohnen, und ich möchte sie besuchen.“
„Ich kann mich nicht erinnern, sie aufgenommen zu haben.“ Der Tonfall der Frau war kühl, ihre Worte waren knapp, und sie verzichtete auf ein Lächeln. „Ich muss nachsehen, ob sie hier wohnen.“ Sie zog ihre Schreibtischschublade auf und blätterte in mehreren Akten. Schließlich hielt sie inne und blickte auf. „Wir haben hier eine Katherine McAlister, vierzehn Jahre, und eine Grace McAlister, sieben Jahre.“
Laura atmete erleichtert auf. „Ja, das sind meine Schwestern.“
„Sie dürfen sich setzen.“ Die Frau nickte zu einem Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
Laura trat vor und sank auf den harten Holzstuhl.
Die Heimleiterin legte die zwei Akten auf ihren Schreibtisch. Sie schlug die oberste auf und begann zu lesen. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, je länger sie die Seite überflog.
Laura faltete die Hände auf dem Schoß und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Warum war die Miene dieser Frau so missbilligend? Was hatten ihre Schwestern angestellt? Katie hatte einen starken Willen und scheute sich nicht, ihre Meinung zu äußern, aber Laura konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich widerspenstig benahm, und ganz gewiss nicht an einem solchen einschüchternden Ort.
Die Heimleiterin hob den Blick. „Ein Besuch bei Ihren Schwestern ist leider nicht möglich.“
Laura blinzelte. „Was? Warum nicht?“
„Katherine und Grace sind erst seit Kurzem in Grangeford. Für einen Familienbesuch ist es zu früh. Das würde die beiden nur aufregen.“
„Aber ich bin den weiten Weg aus St. Albans mit dem Zug hergekommen. Unsere Mutter liegt im Krankenhaus, und ich muss ihr berichten, wie es meinen Schwestern geht.“
Die Heimleiterin überflog die Akte ein zweites Mal. „Ihre Schwestern tun sich schwer, sich an die Tagesabläufe im Heim zu gewöhnen. Ein Besuch von einem Familienangehörigen würde sie nur beunruhigen und die wenigen Fortschritte, die wir erreicht haben, zunichtemachen.“
Laura beugte sich vor. „Ich stehe meinen Schwestern sehr nahe. Mein Besuch würde sie bestimmt eher ermutigen als beunruhigen.“
Mrs Staffords Miene blieb unverändert hart. „Tut mir leid. Ich kann es nicht erlauben.“
Laura verkrampfte die Hände zwischen ihren Rockfalten. Wie konnte ihr diese Frau verweigern, ihre Schwestern zu besuchen? Das war nicht fair, und wahrscheinlich hatte sie dazu auch keine rechtlichen Befugnisse. Sie richtete sich auf ihrem Stuhl auf. „Wenn Sie mir nicht erlauben, sie zu sehen, will ich meine Schwestern noch heute aus Ihrem Heim holen und mitnehmen.“
Die Heimleiterin zog die Brauen hoch. „Das ist nicht möglich.“
Laura hob das Kinn. „Warum nicht? Ich bin volljährig, und sie sind meine Geschwister.“
„Sie wurden von der Polizei hierhergebracht und unserer Obhut unterstellt. Ich kann sie Ihnen nicht einfach aushändigen.“
„Wenn ein Angehöriger kommt und sie zu sich nehmen will, müssen Sie sie doch bestimmt gehen lassen.“
„Nein, das muss ich nicht! Die Kinder werden weder Ihnen noch sonst jemandem übergeben, solange Sie nicht beweisen können, dass Sie ihr gesetzlicher Vormund sind und dass die Umstände, die die Kinder hierhergebracht haben, behoben sind.“ Wieder ein unerbittlicher Blick über den Brillenrand. „Außerdem müssen die Kosten für ihre Betreuung beglichen werden.“
„Welche Kosten?“
„Den Tagessatz für Unterkunft, Verpflegung und Kleidung, die wir den Kindern angedeihen lassen. Bevor die Kinder Grangeford verlassen dürfen, müssen Sie die Kosten bezahlen.“
„Wie hoch sind diese Kosten?“
Die Heimleiterin blätterte in der aufgeschlagenen Akte und rechnete die Summe auf einem Zettel aus. Dann drehte sie den Zettel um und schob ihn Laura über den Schreibtisch zu. „Das ist der Betrag.“
Laura konnte nur mühsam ein Stöhnen unterdrücken. „Das ist ja Wucher!“
„Das sind die Kosten für ein Mädchen. Sie müssen diese Zahl verdoppeln, wenn Sie beabsichtigen, Ihre beiden Schwestern mitzunehmen.“
Laura wurde schwer ums Herz. Wie konnte man von ihr erwarten, eine so hohe Summe zu zahlen? Sie hatte keine Ersparnisse und keine Ahnung, wer ihr so viel Geld leihen könnte. Und was war mit Garth? Wenn sie ihn auch aus dem Heim holen wollte, müsste sie diese Summe verdreifachen.
„Ich weise Sie darauf hin, dass sich die Kosten mit jedem Tag, den die Kinder in unserer Obhut bleiben, weiter erhöhen.“
Lauras Brustkorb zog sich zusammen. Das war so unfair! Warum