Weiter als der Ozean. Carrie Turansky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carrie Turansky
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961224623
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überflog schnell die Liste und entdeckte den Namen ihrer Mutter auf der ersten Seite ziemlich weit unten. Sie fuhr mit dem Finger darüber und las: Station D, Bett Sechs. Ihr Puls schlug höher.

      Sie schob die Liste wieder auf dem Schreibtisch zurück, dann huschte sie leise durch den rechten Gang. Am Ende des Flurs öffnete sie die schwere Tür und schaute in das schwach beleuchtete Treppenhaus. Ein düsteres Licht fiel durchs Fenster und warf lange Schatten. Ihr Magen zog sich zusammen.

      Was würde sie auf Station D vorfinden? Würde ihre Mutter sie erkennen und mit ihr sprechen können?

      Mit dem schweren Koffer in der Hand stieg sie die Treppe hinauf. Sie durfte der Angst und den sorgenvollen Gedanken keinen Raum geben. Sie wollte an der Hoffnung festhalten und an etwas Positives denken: Millies Umarmung und ihr Versprechen, für sie zu beten, Andrew Frasiers Geschenk und seine Freundlichkeit, und dass sie es geschafft hatte, ohne Zwischenfälle nach London zu kommen.

      Als sie im ersten Stockwerk ankam, öffnete sie die Tür und warf einen Blick in den Flur. Eine Krankenschwester in einer grauen Schwesterntracht mit weißer Schürze und Kopftuch war in die andere Richtung unterwegs und verschwand durch eine Tür auf einer der Stationen. Sonst war niemand zu sehen.

      Laura huschte leise durch den Flur und las die Schilder über den Türen, bis sie das Schild fand, auf dem Station D stand. Sie trat ein und ließ ihren Blick über die Patienten schweifen, die in zwei Reihen lagen. Dann schlich sie geräuschlos durch den Mittelgang zwischen den Betten. Als sie beim sechsten Bett ankam, blieb sie stehen und traute ihren Augen kaum. War diese blasse, hagere Frau wirklich ihre Mutter?

      Silberne Fäden durchzogen ihr dunkelblondes Haar, und graue Schatten lagen unter ihren geschlossenen Augen. Sie lag regungslos und still unter einer grauen Decke, die ihrer Hautfarbe viel zu ähnlich war.

      Laura trat näher und legte ihrer Mutter die Hand auf die Schulter. „Mama, schläfst du?“

      Die Augenlider ihrer Mutter zuckten, doch dann schlug sie die Augen weit auf. „Laura, bist du das?“ Ihre Stimme war schwach und heiser, und ihre blaugrauen Augen sahen glasig aus.

      Lauras Herz schlug schneller, und sie beugte sich vor. „Ja, Mama, ich bin hier.“

      „Ich habe Mrs Graham gebeten, dir zu schreiben, aber ich wusste nicht, ob du kommst.“

      „Ich habe ihren Brief erst heute bekommen.“

      „Erst heute?“ Ihre Mutter runzelte die Stirn. „Was … was für ein Tag ist heute? Wie lang liege ich schon hier?“

      „Heute ist Donnerstag, der achte April.“

      Verwirrung trat in die Augen ihrer Mutter. „Ich freue mich, dass du gekommen bist. Aber was ist mit deiner Arbeit in Bolton?“

      „Das ist kein Problem. Die Frasiers sind sehr freundlich. Sie haben mir erlaubt zu kommen.“

      Mama schob ihre Hand unter der Decke heraus, aber ihr schien die Kraft zu fehlen, sie zu heben.

      Laura ergriff die kalten Finger ihrer Mutter, ihre Kehle war wie zugeschnürt. „Alles wird wieder gut werden.“

      „Ja.“ Mama schloss die Augen und atmete langsam und stockend ein.

      „Hast du heute mit dem Arzt gesprochen?“

      „Er sagt, dass ich auf dem Weg der Besserung bin.“ Mama lächelte schwach, aber es war nicht überzeugend.

      „Das freut mich.“ Laura wollte fragen, wie lange sie wohl noch im Krankenhaus bleiben müsste, aber auch ohne zu fragen konnte sie erkennen, dass es nicht danach aussah, als könnte Mama schon bald nach Hause gehen. Sie beschloss, ihre Mutter nicht unnötig aufzuregen, und unterließ diese Frage.

      „Hast du die Kinder gesehen?“ Mamas Griff um Lauras Hand verstärkte sich. „Ich mache mir so große Sorgen um sie. Mrs Graham hat berichtet, dass sie in ein Kinderheim gebracht wurden.“

      „Ja, das hat sie mir in ihrem Brief auch geschrieben.“ Hatte Mrs Graham Mama auch erzählt, dass Garth beim Versuch, ein Brot zu stehlen, erwischt worden war? Laura wollte Mama nicht noch mehr Sorgen machen, deshalb erwähnte sie das lieber nicht. „Weißt du, wie das Heim heißt?“

      Mamas Blick wanderte zum Fenster. „Ich glaube, es ist das Grangeford-Kinderheim. Ich weiß aber weder die Straße noch die Hausnummer.“

      „Das macht nichts. Ich finde die Adresse heraus und gehe morgen hin.“

      Mama nickte und schloss die Augen. „Danke. Sag der Heimleitung, dass ich die Kinder hole, sobald ich kann. Ich habe Mrs Graham gebeten, das weiterzugeben, aber ich habe sie seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, ob sie meine Nachricht ausgerichtet hat oder nicht.“

      „Mach dir keine Sorgen. Ich werde das bei der Heimleitung klarstellen.“

      Mit einem müden Seufzen schloss Mama wieder die Augen. „Bitte sag den Kindern, dass es mir schon besser geht. Das alles ist für sie bestimmt sehr verwirrend und eine große Belastung.“

      „Sie werden sich schon zurechtfinden.“ Laura zwang sich, zuversichtlich zu klingen, aber die Geschichten, die sie über Kinderheime gehört hatte, weckten beunruhigende Fragen.

      Hinter ihr näherten sich Schritte, und Laura warf einen Blick über ihre Schulter.

      Eine Krankenschwester kam durch den Mittelgang auf sie zu, die Augenbrauen missbilligend hochgezogen. „Tut mir leid. Die Besuchszeit ist längst vorbei. Sie müssen gehen.“ Allerdings sah sie überhaupt nicht so aus, als täte es ihr leid.

      „Das ist meine Tochter Laura. Sie ist den weiten Weg aus St. Albans gekommen, um mich zu besuchen. Für Familienangehörige können Sie doch sicher eine Ausnahme machen.“

      „Die Regeln gelten auch für Familienangehörige.“ Die Schwester richtete ihren strengen Blick auf Laura. „Ihre Mutter braucht Ruhe. Sie können sie morgen zwischen eins und vier besuchen. Nur in diesen drei Stunden ist Besuchszeit.“

      Laura beugte sich hinunter und küsste Mama auf die Stirn. „Schlaf gut, Mama. Ich besuche morgen Garth, Katie und Grace. Danach komme ich direkt hierher.“

      „Danke, Liebes.“ Mama fielen die Augenlider zu.

      Laura fasste neuen Mut. Ihr Besuch war zwar kurz gewesen, aber ihr Versprechen, die Kinder zu besuchen, hatte Mama neue Hoffnung gegeben. Das musste für den Moment genügen.

      

      Eine Stunde später stapfte Laura durch die Larchmont Street. Ihr Arm schmerzte, weil sie schon den ganzen Nachmittag ihren Koffer mit sich herumschleppte. Das Tageslicht wurde bereits schwächer, und hinter den Fenstern der Häuser und Geschäfte, an denen sie vorbeiging, brannten Gaslampen. Sie nahm ihren Koffer in die andere Hand und bog in die Gasse hinter der Schneiderei. Haufen von kaputten und unbrauchbaren Möbeln und Müllberge lagen hier herum. Sie hielt sich Mund und Nase zu, um den säuerlichen Gestank von verdorbenem Essen weniger stark zu riechen.

      Was für ein grauenhafter Ort! Sie musste eine geeignetere Wohnung für ihre Familie finden. Aber wie sollten sie sich das leisten können? Besonders jetzt, da ihre Mutter aufgrund ihrer Krankheit so lange nicht arbeiten konnte?

      Laura erreichte den Eingang zur Wohnung ihrer Familie, stellte den Koffer ab und wollte die Tür öffnen, aber diese war abgeschlossen. Sie schaute sich um und suchte eine Stelle, an der Mama einen Schlüssel versteckt haben könnte, fuhr mit der Hand oben über den Türrahmen und sah unter der Mülltonne nach, fand aber nichts. Was sollte sie jetzt machen?

      Sie rieb sich die brennenden Augen und versuchte, die Hoffnungslosigkeit, die in ihr aufstieg, zu verdrängen. Am liebsten hätte sie sich auf die Treppenstufen gesetzt und ihrem Kummer Luft gemacht. Aber Weinen half ihr nicht weiter. Es war für ihre Familie wichtig, dass sie stark blieb und einen klaren Kopf behielt.

      Sie atmete tief ein und versuchte, ihre wild durcheinanderpurzelnden Gedanken zu ordnen. Mrs Palmer, die Witwe, der die Schneiderei gehörte, hatte bestimmt einen Wohnungsschlüssel. Vielleicht war sie noch im Laden.