Über die Autorin
Carrie Turansky ist bereits mit diversen Preisen für ihre Romane ausgezeichnet worden. Ihre Freizeit verbringt die fünffache Mutter und sechsfache Großmutter am liebsten mit ihrer Familie, im Museum oder in ihrem Garten. Sie lebt mit ihrem Mann im US-Bundesstaat New Jersey.
Für Shirley Turansky, meine liebe Schwiegermutter,
Mutmacherin und Freundin,
die in Windsor in der kanadischen Provinz Ontario geboren wurde
und deren Vorfahren aus England stammten.
Möge dir dieser Roman einen tieferen Einblick
in die kanadische Geschichte geben.
Schaffet Recht dem Armen und dem Waisen und
helfet dem Elenden und Dürftigen zum Recht.
Errettet den Geringen und Armen und
erlöset ihn aus der Gottlosen Gewalt.
Psalm 82,3–4
1
London, 1909
Katie McAlisters Herz hämmerte wild, während sie sich an dem wackeligen Geländer festhielt und die Hintertreppe hinabstürmte. Unten angekommen schob sie die schwere Tür auf und sprang hinaus in die dunkle Gasse hinter der Schneiderei. Ein kühler grauer Nebel hüllte sie ein und brachte den Geruch von verfaultem Essen und erstickendem Kohlenrauch mit sich.
Sie warf einen schnellen Blick nach links und dann nach rechts. Eine Gänsehaut lief ihr über die Arme. So spät nachts war sie noch nie allein auf der Straße gewesen. Das war gefährlich, wenigstens in diesem Teil von London. Aber sie durfte sich von ihren Ängsten nicht aufhalten lassen. Sie musste es tun.
Wenn nur ihre ältere Schwester Laura hier wäre! Sie wüsste, was zu tun war. Aber sie wohnte kilometerweit entfernt.
Katie rannte los und wich den Holzkisten aus, die von kaputten Flaschen und stinkendem Müll überquollen. Das kreischende Miauen einer Katze zerschnitt die Luft. Katie machte keuchend einen Satz zur Seite. Die Katze huschte an ihr vorbei, ein schwarzer Schatten im schwachen Licht der Gaslaternen.
Sie atmete scharf ein und bog um die Ecke. Ihre Schritte hallten auf dem kalten, glitschigen Kopfsteinpflaster wider. Sie hätte schon früher Hilfe holen sollen, aber Mama hatte sie angefleht, sie nicht allein zu lassen.
Sie lief an der Schusterei und an der Bäckerei vorbei, dann bog sie in eine Gasse und rannte polternd zur Tür der Grahams hinauf. Mit zitternder Hand klopfte sie dreimal, dann biss sie sich auf die Lippe und trat zurück. Niemand kam an die Tür. Sie klopfte erneut, dieses Mal kräftiger. „Mrs Graham!“
Schließlich ging die Tür auf, und die Freundin ihrer Mutter schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an. Sie trug eine Rüschenhaube auf dem Kopf, ein graues Wolltuch lag über ihren Schultern. „Meine Güte, Katie! Bist du das?“
„Ja, Madam. Können Sie bitte mitkommen? Mama geht es immer schlechter. Sie glüht vor Fieber, und ihr Atem kommt so keuchend. Wir wissen nicht, was wir tun sollen.“
Ein angsterfüllter Blick trat in Mrs Grahams Augen. Sie nickte schnell. „Natürlich, Liebes. Ich packe nur ein paar Sachen ein.“
Katie schloss ihre brennenden Augen und atmete tief aus. Jetzt würde alles gut werden. Mrs Graham wusste, wie man Kranke pflegte. Katie schluckte schwer und betete, dass Mrs Grahams Hilfe ausreichen würde. Aber die schmerzvollen Erinnerungen an den Unfall ihres Vaters vor anderthalb Jahren stürmten auf sie ein. Er war bei einem schrecklichen Zugunglück schwer verletzt worden. Mama hatte ihn drei Tage lang rund um die Uhr gepflegt. Die ganze Familie hatte gebetet, dass er wieder gesund werden würde, aber er war gestorben, und ihre Welt war zusammengebrochen.
Sie waren gezwungen gewesen, ihr bescheidenes Haus aufzugeben und in die Drei-Zimmer-Wohnung über der Schneiderei zu ziehen, in der Mama für Mrs Palmer von frühmorgens bis spätabends Kleider nähte. Wenigstens hatte Mama für Mrs Palmer gearbeitet, bis sie vor acht Tagen Fieber bekommen hatte. Seitdem war sie zu schwach, um vom Bett aufzustehen.
Mrs Graham trat mit einem Korb am Arm aus der Wohnung. „Komm, Kind.“
Katie versteifte sich. Sie war kein Kind mehr. Sie war vierzehn und arbeitete fast den ganzen Tag. Sie kümmerte sich um ihre jüngere Schwester Grace und übernahm einen Teil des Kochens und Wäschewaschens. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um das klarzustellen. Sie eilte hinter Mrs Graham her und schickte ein stummes Gebet zum Himmel, während sie der Freundin ihrer Mutter folgte und schließlich in die Gasse hinter der Schneiderei einbog. Sie lief voraus und öffnete Mrs Graham die Tür zum Treppenhaus.
„Du meine Güte! Hier drinnen ist es ja so dunkel wie in einem Verlies.“ Mrs Graham raffte ihren Rock und stieg die knarrende Treppe hinauf.
Katie blieb an der untersten Stufe stehen und schaute nach oben. Ein schwaches, trübes Licht fiel durch das einzige Fenster und warf gespenstische Schatten auf die Stufen. Ein kaltes Grauen erfasste sie. Wenn sie nur vor dem schmerzlichen Anblick, der sie in der Wohnung erwartete, fliehen könnte! Aber Garth, ihr Zwillingsbruder, war oben bei Mama und bei der siebenjährigen Grace. Sie verließen sich auf sie, und Katie würde sie in dieser beängstigenden Nacht nicht allein lassen.
Sie atmete tief ein, straffte die Schultern und stieg die Treppe hinauf. Oben angekommen folgte sie Mrs Graham in die Wohnung. Die abstoßenden Gerüche aus der Gasse durchdrangen ihre kleine Behausung, obwohl sich Mama und Katie nach Kräften bemühten, alles sauber zu halten. Eine einsame Petroleumlampe brannte neben Mamas Bett und erhellte das kalte Zimmer mit einem trüben Lichtschein.
Mrs Graham eilte zu dem Bett, in dem Mama lag. Katies Bruder und Schwester saßen auf dem anderen Bett. Grace hatte sich an Garth gelehnt und drückte ihr Gesicht an seine Schulter. Er schaute Katie an. Seinem angsterfüllten Blick entging nicht, was sie dachte.
Er hatte schon immer ihre Gedanken lesen können, solange sie zurückdenken konnte. Mama sagte, als Kleinkinder hätten sie ihre eigene Sprache gehabt. „Zwillingssprache“ hatte sie es genannt. Obwohl seitdem viele Jahre vergangen waren, waren sie nach wie vor Seelenverwandte und wussten meistens, was der andere dachte. Zwischen ihnen gab es keine Geheimnisse.
Katie trat ans Bett, auf dem Grace und Garth warteten. Sanft strich sie über die blonden Locken ihrer Schwester. Das arme Kind. Es war schon fast Mitternacht. Sie sollte längst schlafen und von glücklicheren Tagen träumen.
Mrs Graham sprach leise mit Mama, während sie das Laken glatt strich und ihr die Decke über die Brust hochzog, aber Mama antwortete nicht. Sie warf unruhig den Kopf hin und her. Ihre Wangen waren gerötet und schweißgebadet.
Grace schaute Mrs Graham ängstlich an. „Wird sie wieder gesund?“
Mrs Graham zögerte. „Natürlich, Liebes.“ Aber ihre Worte klangen nicht überzeugend. Ihr Blick wanderte von Grace zu Katie. „Geh doch bitte in die Küche und setz den Teekessel auf. Garth, du und Grace geht bitte auch mit. Eine Tasse Tee wird uns allen guttun.“
„Ja, Madam.“ Katie nahm Grace an der Hand und half ihrer Schwester vom Bett. Ihr Bruder stand auf und folgte ihnen in die Küche.
Garth schüttete eine kleine Schaufel voll Kohlen in den Ofen, seine Miene wirkte abwesend und bedrückt. Katie füllte den Kessel mit Wasser und versuchte, den Schmerz in ihrer Brust zu ignorieren. Grace kletterte auf einen der Stühle am Tisch und schaute ihren beiden Geschwistern mit großen blauen Augen zu.
Katie holte vier Tassen aus dem Regal und stellte sie auf den Tisch, dann nahm sie die Teedose. Sie war fast leer. Zucker hatten sie auch nicht mehr. Das Brot war aufgebraucht. Alles, was noch an Essbarem da war, waren einige runzelige Kartoffeln und eine Zwiebel. Mit einem müden Seufzen gab sie ein paar Teeblätter in den Topf und ließ den Tee ziehen.
Grace stützte den Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in ihre Hand. „Kann ich heiße Schokolade haben?“
Garth warf Katie einen schnellen Blick zu. Seine