Weiter als der Ozean. Carrie Turansky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carrie Turansky
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961224623
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nach Kanada kommt. Irgendwie müssen wir einen Weg finden, zusammenzubleiben, egal was kommt.

      Bitte schreibe mir. Ich bin nur noch vier Tage hier in Grangeford. Ich brauche Deine Antwort, bevor ich fahre!

      Liebe Grüße von Deinem Bruder Garth

      Heiße Tränen raubten ihr die Sicht, sodass sie diesen letzten Teil des Briefes kaum richtig lesen konnte. Garth verließ Grangeford und ging nach Kanada, um dort ein neues Leben anzufangen. Mama war tot und würde sie nicht aus dem Kinderheim holen.

      Ihre Schultern sackten nach unten, sie senkte den Kopf und ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. Oh Herr, was soll ich nur machen? Ich kann mir nicht vorstellen, England zu verlassen und so weit weg zu gehen. Ich weiß mir keinen Rat.

      Ein kleines Licht tauchte links von ihr auf und bewegte sich schwankend auf sie zu.

      Katie starrte regungslos die Laterne an, denn etwas anderes konnte das Licht nicht sein.

      „Junges Fräulein, was machst du so spät allein hier draußen in der Dunkelheit?“

      Katies Herz hämmerte wie wild. „Wer … wer sind Sie?“

      „Charlie Peterson.“ Er hob die Laterne so hoch, dass das Licht sein faltiges Gesicht beschien. „Ich bin hier der Hausmeister und Nachtwächter. Und wer bist du?“

      „Katie … Katie McAlister.“

      „Nun, Miss Katie, du solltest von dieser Kiste heruntersteigen und mit mir kommen.“ Als sie sich nicht rührte, musterte er sie von Kopf bis Fuß. „Hast du mich gehört, Mädchen?“

      Sie erwachte aus ihrer Benommenheit und stieg von der Kiste. Dabei drückte sie die Nachricht von Garth immer noch an ihre Brust. Zweifellos würde sie bestraft werden, weil sie sich ohne Erlaubnis aus dem Haus geschlichen hatte.

      Sein Blick fiel auf die Nachricht in ihrer Hand, und er runzelte die Stirn. „Schreibst du den Jungen Briefe?“

      „Nein! Ich meine ja, aber nur meinem Bruder, Garth. Wir sind Zwillinge. Und sie lassen uns nicht miteinander sprechen.“

      „Das ist wirklich traurig.“ Er deutete zum Haus. „Komm am besten mit mir.“

      Sie seufzte resigniert und folgte ihm. Was sollte sie der Heimleiterin sagen, wenn Mr Peterson sie zu ihr brachte? Aber er ging am Haupteingang vorbei, marschierte zur Rückseite des Gebäudes und führte sie eine Treppe hinab. Unten angekommen schob er die Tür auf und forderte sie mit einer Handbewegung auf einzutreten.

      Sie kam seiner Aufforderung nach, und gemeinsam gingen sie den Gang entlang und betraten ein kleines Zimmer mit einem Kamin, in dem ein Feuer brannte. Eine Petroleumlampe stand auf einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Das einzige andere Möbelstück im Zimmer war ein Schreibtisch in einer Ecke, auf dem sich Bücher und Papiere stapelten.

      „Setz dich und erzähl mir deine Geschichte.“ Er zog einen Stuhl für sie heraus.

      „Meine Geschichte?“

      „Ja. Warum du hier bist und was mit deinem Bruder ist. Du hast gesagt, er heißt Garth?“

      „Ja, Sir.“ Katie setzte sich auf den alten Holzstuhl vor dem Kamin. Mr Peterson gab ihr eine Tasse Tee, und sie erzählte ihm erst zögernd, dann aber immer mutiger, was passiert war und wie sie in Grangeford gelandet waren.

      Der alte Mann saß ihr gegenüber, er nickte hin und wieder und fragte an einigen Stellen nach. Aber die meiste Zeit hörte er ihr nur aufmerksam zu und beobachtete sie mit einem sanften Leuchten in seinen grauen Augen. Schließlich sagte er: „Es tut mir leid, das von deiner Mutter zu hören. Ich habe meine Mutter verloren, als ich ungefähr in deinem Alter war. Ich kann mir also vorstellen, wie schwer das für dich sein muss.“

      Katie schluckte und hatte Mühe, nicht zu weinen. Sie hatte kaum Zeit gehabt, darüber nachzudenken, aber die freundlichen Worte des alten Mannes linderten diesen schrecklichen Schmerz in ihrer Brust ein wenig. Es war lange her, dass sich jemand nach ihrer Familie erkundigt und ihr wirklich zugehört hatte.

      Mr Peterson schenkte sich eine zweite Tasse Tee ein und rührte einen Löffel Zucker hinein. „Also, Miss Katie, es klingt, als müsstest du eine Entscheidung treffen. Und als bliebe dir dafür nicht viel Zeit. Wirst du fragen, ob du auf die Liste nach Kanada gesetzt werden kannst?“

      „Ich will nicht so weit von zu Hause weg.“ Aber hatte sie jetzt, da Mama tot war und ihr Bruder fortgeschickt wurde, wirklich noch ein Zuhause?

      „Hast du noch andere Angehörige, die dich zu sich nehmen könnten?“

      Katie schaute ins Feuer. „Ich habe eine ältere Schwester. Aber sie arbeitet als Kammerzofe auf einem Anwesen nördlich von London.“

      „Weiß sie, dass du hier bist?“

      „Eine Freundin unserer Mutter hat gesagt, dass sie ihr schreiben will. Aber seit wir hier sind, haben wir weder von ihr noch von dieser Freundin etwas gehört.“

      „Dann schlage ich vor, dass du ihr selbst schreibst.“ Er stand auf, ging auf die andere Seite des Zimmers und öffnete die oberste Schreibtischschublade. Nachdem er einige Sekunden darin gekramt hatte, holte er Papier und einen Füller heraus und kam zum Tisch zurück. „Hier hast du, was du brauchst. Und wenn du schon dabei bist, kannst du deinem Bruder auch gleich schreiben. Ich werde dafür sorgen, dass er deinen Brief bekommt.“ Er hob den Finger. „Aber du musst mir versprechen, dass du nicht mehr nachts draußen herumschleichst und Nachrichten durch den Zaun schmuggelst.“

      Katie nahm den Füller und das Papier und schaute ihm in die Augen.

      „Gibst du mir dein Wort, Mädchen?“

      „Ja, Sir.“ Sie hielt den Füller über das Papier und überlegte, wem sie zuerst schreiben wollte. Aber dann hob sie traurig den Kopf. „Ich habe kein Geld für Briefmarken.“

      Sein Lächeln kehrte zurück, und kleine Fältchen bildeten sich in seinen Augenwinkeln. „Keine Sorge. Den Brief an deinen Bruder überbringe ich persönlich, und für den anderen kaufe ich eine Briefmarke. Schreib jetzt einfach deinen Brief. Du solltest dich beeilen. Es ist bald Schlafenszeit, und du willst bestimmt nicht, dass die Heimleiterin ihre Runde dreht und dein Bett leer vorfindet. Wenn du nicht da bist, glaubt sie womöglich, du wärst weggelaufen, und holt die Polizei.“ Seine Augen funkelten belustigt.

      An einem anderen Abend hätte sie bei der Vorstellung, dass die Heimleiterin so übertrieben reagieren und eine panische Suche starten würde, wenn sie Katies Bett leer vorfände, vielleicht gelächelt oder sogar lauthals gelacht. Aber die schmerzliche Nachricht über ihre Mutter, die sie bekommen hatte, raubte ihr die Kraft für eine unbeschwerte Reaktion.

      Sie biss sich auf die Lippe und starrte das leere Blatt Papier an. Jetzt, da sie Papier und Füller hatte und der Mann sogar versprochen hatte, eine Briefmarke zu kaufen und dafür zu sorgen, dass ihre Briefe ankamen, wusste sie nicht, was sie schreiben sollte. Ihr Kopf war voller Fragen, aber auf keine hatte sie eine Antwort.

      Sollte sie Garth versprechen, dass sie versuchen würde, eine Möglichkeit zu finden, auch nach Kanada zu fahren? Würde Laura ihren Brief rechtzeitig bekommen, und könnte Katie ihre Schwester überreden, sie aus dem Heim zu holen, bevor ihr und Grace keine andere Wahl bliebe, als mit Garth über den Ozean zu segeln?

      5

      Andrew warf den Tennisball in die Luft und holte mit seinem Schläger kräftig aus. Der Ball flog über das Netz und schlug knapp innerhalb der Spielfeldlinie auf. Es tat gut, wieder in London zu sein und die Gesellschaft seines Freundes und Mentors zu genießen.

      Henry Dowd machte einen Ausfallschritt und schlug den Ball zurück. Andrew sprang vor, nahm den Ball volley aus der Luft und lupfte ihn knapp über das Netz.

      Henry zögerte einen Moment zu lange, bevor er nach links lief und mit seinem Schläger ausholte. Er verfehlte den Ball um mindestens fünf Zentimeter. Stöhnend schüttelte er den Kopf. „Guter Schlag, Andrew. Du hast gewonnen.“ Er trabte über das Feld, hob den Ball auf und marschierte dann auf das Netz zu.