Weiter als der Ozean. Carrie Turansky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carrie Turansky
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961224623
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ich gern reise. Kanada wollte ich schon immer einmal sehen.“

      Henry zog eine Braue hoch. „Ich dachte, du würdest sagen, dass du schon immer ein Herz für Kinder und für die Armen hattest.“

      Andrews Gesicht begann zu glühen. „Ja, Gerechtigkeit auch für die Armen – das ist mir ein großes Anliegen. Und für die Kinder ganz besonders.“

      Henry klopfte ihm auf die Schulter. „Das weiß ich doch. Ich habe nur getestet, ob ich dich ein wenig aus der Fassung bringen kann.“ Sein Grinsen verblasste. „Aber jetzt im Ernst: Das ist ein sehr wichtiger Auftrag. Wir werden der Regierung gegenüber verantwortlich sein. Und was noch wichtiger ist: Wir müssen uns vor unserem Herrn im Himmel verantworten. Wir müssen fest entschlossen sein, unser Bestes zu geben, und unsere Arbeit im Gebet Gott hinlegen.“

      „Ja, natürlich.“

      „Dann sollten wir sofort damit anfangen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, beugte Henry den Kopf.

      Andrew senkte ebenfalls schnell den Kopf. Er fühlte sich immer noch nicht ganz wohl damit, dass sein Freund die Angewohnheit hatte, in den ungewöhnlichsten Momenten laut zu beten. Aber er schätzte Henrys ehrlichen Glauben und sein Bestreben, auch im Alltag Gottes Führung zu suchen.

      „Vater, wir kommen vertrauensvoll zu dir. Unsere Herzen und Gedanken sind auf diesen neuen Auftrag gerichtet, die Kinderemigration zu untersuchen. Wir wissen, dass du alle Probleme und alle Menschen, die daran beteiligt sind, genau kennst. Wir wissen, dass dir die Armen am Herzen liegen und dass du einen besonderen Platz in deinem Herzen für Waisen und verlassene Kinder hast. Bitte sorge dafür, dass sie uns auf dieselbe Weise am Herzen liegen. Führe uns und zeige uns die Wahrheit. Hilf uns, die Situation deutlich zu sehen und zu erkennen, was wir in unseren Bericht aufnehmen und was wir empfehlen sollen. Wir bitten dich, dass du unsere Reise segnest, und geben uns in deine Hände. Um das alles bitten wir dich im Namen von Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.“

      „Amen“, schloss sich Andrew dem Gebet seines Freundes an und hob dann wieder den Kopf.

      Henry legte Andrew die Hand auf die Schulter. „Mein Freund, das ist eine große Verantwortung – aber es könnte auch ein großes Abenteuer werden.“

      Andrew erwiderte sein Lächeln. „Das sehe ich auch so. Ich bin bereit.“

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      Katie holte tief Luft und zwang sich, die Worte auszusprechen. „Ich will nach Kanada.“

      Mrs Staffords Brauen hoben sich. „Wir schicken normalerweise nur unsere besten Mädchen nach Kanada. Sie müssen gehorsam und fleißig sind. Würdest du dich so beschreiben?“

      Katies Wangen begannen zu glühen. „Ja, Madam. Ich bemühe mich.“ Gott sei Dank hatte Mr Peterson der Heimleiterin nicht verraten, dass sie sich in der Dunkelheit aus dem Haus geschlichen hatte, um Garth zu treffen. Über den Schreibtisch hinweg sah sie Mrs Stafford offen die Augen.

      Die Frau schürzte die Lippen und las in der Akte, die sie vor sich aufgeschlagen hatte, als würde sie sie das erste Mal sehen. „Erzähl mir von deiner Familie.“

      Ein Kloß bildete sich in Katies Kehle, und sie musste schwer schlucken, bevor sie sprechen konnte. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ihre Mutter tot war. Es tat so weh, auch nur daran zu denken. „Meine Eltern waren gute Menschen. Sie waren sehr freundlich und hilfsbereit. Papa arbeitete als Zimmermann. Er baute Häuser und renovierte Gebäude. Mama kümmerte sich um den Haushalt und die Familie, bis Papa starb. Dann mussten wir umziehen, und Mama begann, in einer Schneiderei zu arbeiten. Aber sie lebt jetzt auch nicht mehr, und wir sind auf uns allein gestellt.“

      Mrs Stafford runzelte die Stirn und las die Akte. „Deine beiden Eltern sind tot?“

      Katie schluckte wieder und nickte.

      „Und deine Geschwister?“

      „Mein Zwillingsbruder Garth ist im Jungenheim nebenan, und Grace, meine kleine Schwester, ist hier bei mir. Wir haben eine ältere Schwester, Laura. Sie arbeitet als Kammerzofe auf einem Anwesen in der Nähe von St. Albans.“ Ihre Enttäuschung schmerzte so sehr, dass ihre Stimme fast versagte. „Aber sie kann nicht für uns sorgen.“

      „Verstehe.“ Die Heimleiterin tauchte ihre Feder in die Tinte und schrieb etwas in die Akte. Dann sagte sie: „Erkläre mir, warum du nach Kanada willst.“

      „Garth hat gesagt, dass er bald nach Kanada fährt. Deshalb wollen Grace und ich auch nach Kanada, damit wir zusammenbleiben können.“

      Mrs Stafford klappte die Akte zu und betrachtete Katie. „Du scheinst gesund zu sein, und du siehst nicht allzu schlecht aus, auch wenn du für dein Alter ziemlich klein bist.“ Die Heimleiterin musterte sie noch einmal. „Wirklich schade, dass du keine blauen Augen hast.“

      Katie verkrampfte die Hände hinter dem Rücken und bemühte sich, sich von diesen Worten nicht verletzen zu lassen, aber sie trafen sie trotzdem. Sie würde nie so hübsch sein wie ihre Schwestern. Sie hatten beide wunderschöne blaue Augen und gewelltes blondes Haar. Katie hatte die braunen Augen ihres Vaters geerbt, und ihr Haar war eher rötlich als braun. Das war doch hoffentlich kein Hindernis, um nach Kanada zu kommen, oder doch?

      Sie erwiderte den Blick der Heimleiterin. „Niemand kann etwas für seine Augenfarbe.“

      „Ach, mach dir deshalb keine Sorgen, Kind. Es könnte trotzdem eine Familie geben, die dich aufnimmt.“

      Katie bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Sie wollte die Frau nicht verärgern. Sie sollte sie nicht für launisch oder empfindlich halten.

      „Der Bundesstaat Kanada gehört zu den wohlhabendsten Gebieten des Britischen Empires. Ein Land voller Chancen für Menschen, die bereit sind, fleißig zu arbeiten und verantwortungsbewusst und gehorsam zu sein.“ Mrs Stafford kniff die Augen zusammen. „Bist du dazu bereit, Katherine?“

      „Ja, Madam. Ich habe meiner Mutter immer beim Kochen und Putzen geholfen und auf meine jüngere Schwester aufgepasst. Ich kann flicken und stricken, und ich habe nähen gelernt und beherrsche die nötigen Stiche, um Kleider und Hemden zusammenzunähen. Ich werde eines Tages bestimmt eine gute Näherin sein.“

      Mrs Staffords Mundwinkel verzogen sich säuerlich. „Es schickt sich nicht, mit seinen Fertigkeiten zu prahlen. Warte, bis du gefragt wirst, ehe du deine Liste aufzählst.“

      Erneut schoss eine spürbare Hitze in Katies Gesicht, und sie presste die Lippen zusammen.

      „Merke dir, Katherine: Mit Demut kommst du viel weiter als mit Stolz.“

      „Ja, Madam.“

      „Der Himmel weiß, dass wir hier überfüllt sind.“ Die Heimleiterin blätterte noch einmal in Katies Akte und seufzte. „Wir haben vier Mädchen, die am Mittwoch nach Liverpool aufbrechen. Ich setze deinen Namen zu ihren auf die Liste.“

      Katie beugte sich vor und umklammerte die Schreibtischkante. „Bitte, Madam, meine Schwester Grace muss auch mitkommen. Wir müssen zusammenbleiben.“

      Die Heimleiterin zog eine andere Akte aus ihrer Schreibtischschublade. Mit gerunzelter Stirn überflog sie die erste Seite. „Grace ist erst sieben. Sie ist zu jung, um einer Familie eine große Hilfe zu sein.“

      „Ich kümmere mich um sie. Sie wird niemandem zur Last fallen.“

      Die Heimleiterin tippte mit den Fingern auf den Schreibtisch, während sie den Rest von Graces Akte las. Schließlich hob sie den Blick. „Also gut. Vielleicht gibt es eine Familie, die euch beide aufnimmt.“

      Katie atmete erleichtert auf. „Danke, Madam. Ich verspreche, dass wir alles tun, was man uns aufträgt, und dass wir höflich und respektvoll sind. Hauptsache, wir können zusammenbleiben.“

      Die Augen der Heimleiterin wurden einen Moment weicher, doch dann legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht. „Ihr werdet das bestimmt schaffen. Mrs Hastings wird sich darum kümmern, dass ihr für die Fahrt nach Liverpool alles habt, was ihr braucht. Die Mitarbeiterinnen dort werden euch helfen, euch vorzubereiten