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Diesmal erwachte Raymond in einem Busbahnhof. Er saß auf einer Gruppe von unglaublich unbequemen Plastikstühlen und fokussierte seinen Blick erst einmal auf das kleine Mädchen, das ihm direkt gegenübersaß. Es starrte ihn mit großen Augen an, ebenso die Mutter – das verriet ihm, dass sein abruptes Aufwachen ein ziemliches Spektakel gewesen sein musste.
Die Kleine war niedlich und unschuldig, geradezu unbezahlbare Qualitäten. Er wusste sofort, dass sie keine Gefahr für ihn darstellte, aber Raymond wartete sicherheitshalber noch einen Augenblick, bis er wirklich wach war. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare und seufzte schwer. Seine Finger klebten anschließend vor Schweiß.
Die Frau gegenüber legte schützend den Arm um ihre Tochter und warf Raymond einen strengen Blick zu. Er lächelte sie an, dann das kleine Mädchen. Da keine von beiden darauf reagierte, nickte er verständig, schnappte sich den Seesack, der zu seinen Füßen lag, und begab sich in Richtung Ausgang.
Durch die Glastüren am Ende des Terminals sah er, dass es draußen regnete. Langsam Zeit zum Einsteigen, dachte er sich. Er warf sich den Seesack über die Schulter und schlurfte zum Ausgang, um einen besseren Blick auf die Straße zu erhalten. Dort standen jede Menge Autos herum, die nur darauf warteten, ausgeliehen zu werden. Ich bin noch nie gerne Bus gefahren.
Als er draußen war, legte er den Kopf in den Nacken und ließ den Regen auf sein Gesicht prasseln. Dieses Ritual gab ihm jedes Mal ein Gefühl von Reinigung, von Wiedergeburt. Das war auch diesmal so, zumindest, bis er die Augen öffnete, sich das Wasser vom Gesicht wischte und sich wieder auf die Straße und die Menschen konzentrierte. Die Einsamen und die Verirrten, die Unwissenden und die Abgelenkten, alle hetzten ins Nichts, isoliert inmitten ihrer Artgenossen. Sie waren wie blinde Mäuse, die durch ein endloses Labyrinth rannten, das die meisten von ihnen nicht einmal wahrnehmen konnten. Er erinnerte sich an Peanut, eine Wüstenrennmaus, die er als Kind hatte. Wenn sie in ihrem Hamsterrad rannte, fragte er sich oft, ob sie wohl wusste, wo sie sich im Universum befand. Kannte sie den Unterschied zwischen der Enge ihres Käfigs und der riesigen Welt um sie herum? Fragte sie sich, was es noch alles auf der Erde gab, außer dem kleinen Zimmer, in dem Raymond sie manchmal herumrennen ließ, nachdem er sie gestreichelt hatte? Und interessierte sie all das überhaupt? Etwas blitze in Raymonds Hirn auf, eine Reflexion von der scharfen Klinge einer riesigen Axt, die in finsterer Nacht das glitzernde Mondlicht widerspiegelte. Als die Vision endete, trat Raymond vom Bordstein auf die Straße und überquerte sie mit langen, zielgerichteten Schritten. Ein Jahr war seit jener Nacht in der Hütte vergangen. Alles zu leugnen, war keine Option mehr. Er musste zurückgehen. Das wusste er jetzt. Er hatte keine Wahl.
KAPITEL 4
Etwas Unbedeutendes löste die Erinnerungen aus, und sie kamen in Bruchstücken zurück. Details wurden stärker, lebendiger und exakter, bis ein einzelner Moment in seinem Bewusstsein Halt fand.
Schneeflocken.
Erzähle mir, was du siehst, Seth. Die Stille der Nacht war erschüttert worden, und er wurde wach, als hätte man ihn geschüttelt. Die anderen Menschen im Raum schliefen fest, konnten ihn also nicht gestört haben. Trotzdem war er sich sicher, jemand hätte genau das gerade getan. Seine Augen untersuchten die Umgebung, so gut das aus einer liegenden Position ging: Schatten, Mondlicht – sonst nichts. Aber hinter dieser Dunkelheit verbarg sich etwas. Etwas, das man nicht anfassen, sehen oder gar hören konnte, das aber da war. Ganz sicher. Er hielt den Atem an und lauschte angestrengt in die Stille. Nach einer Weile konnte er Geräusche ausmachen, Klänge, die ihm vorher nicht aufgefallen waren. Ein kaum wahrnehmbares Kratzen, das gelegentlich aus dem tiefen Zischen des Grundrauschens hervorbrach. Bewegung. Er war sicher, dass diese Geräusche von Bewegungen hervorgerufen wurden. Kleinen Bewegungen. Schleichenden Bewegungen. Waren sie draußen vor der Tür? Oder schon näher dran? Bereits im Zimmer? Seine anfängliche Verwunderung wurde langsam zu blankem Entsetzen. Sein Herz hämmerte wie wild in seinem Brustkorb, und sein Körper wurde von Krämpfen durchgeschüttelt und schließlich komplett steif. Mit großer Mühe schaffte er es, seinen Mund zu öffnen, aber mehr als gedämpftes Grunzen und Stöhnen brachte er nicht zustande. Die Geräusche (waren es Schritte?) wurden lauter, energischer. Kamen näher. Er verdrehte die Augen in dem Versuch, so viel wie möglich von dem Raum erkennen zu können. Er wusste, dass sein Bruder eben noch nur ein paar Meter von ihm entfernt geschlafen hatte, aber jetzt war die Stelle leer. »Raymond?« Eine unscharfe Form bewegte sich in der Nähe und erweckte seine Aufmerksamkeit. Sie zischte außerhalb seines Sichtbereiches vorbei und änderte die Muster von Schatten und Mondlicht auf der gegenüberliegenden Wand. Inzwischen war er vollends der panischen Angst verfallen und versuchte noch einmal, zu schreien, aber außer einem kaum hörbaren Seufzen passierte nichts. Schlief er noch? War das vielleicht alles nur ein Albtraum? Auf mehrere Arten fühlte es sich wie ein Traum an – sowohl physisch als auch psychisch – und doch wusste er es; er wusste, dass er wach war. Er schloss seine Augen und presste sie fest zusammen, denn sehen wollte er nichts mehr. Nach einem Moment der Stille öffnete er sie dennoch langsam wieder. Dunkelheit kroch durch das Zimmer wie ein aufkommender Nebel. Raymond war noch immer fort, aber die anderen waren mit ihm zusammen in diesem Raum, völlig ungestört schlafend. Seth? Sag mir bitte, was du siehst. Vor wenigen Sekunden war doch noch etwas hier gewesen, da war er sich ganz sicher. Etwas Böses. Etwas nicht Menschliches. Die Finsternis verschlang alles, aber dieses Mal kehrte seine Sehkraft zurück, allerdings fokussierte sie sich auf eine andere Nacht, Jahre zuvor. »Ich sehe Raymond.« Und was macht Raymond, Seth? »Rennen … er … er rennt.« Rennst du auch? »Ja.« Was siehst du sonst noch? »Raymond weint. Er ist komplett panisch. Er – er hat so viel Angst, dass er komplett die Kontrolle über sich verloren hat.« Hast du auch Angst, Seth? »Ich weiß nicht, ich … ich meine, es ist so, als wäre ich gar nicht wirklich da, aber … ja.« Ist es Tag oder Nacht? »Nacht.« Was siehst du noch? »Es schneit. So ein leichter, fluffiger Schnee. Eigentlich ist das ganz schön. Ich versuche, mir den Schnee anzusehen, weil er so schön ist, aber … aber Raymond schreit und rennt und weint, und er wirkt so verloren, so …