FINSTERE NACHT. Greg F. Gifune. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Greg F. Gifune
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350885
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sich, sie glitten langsam hin und her, wobei sie ihn nie aus dem Blick ließen. Aber etwas stimmte nicht mit diesen Augen. Sie waren nicht menschlich. Ohne einen Laut zu machen, bildete Raymond mit den Händen einen Trichter um seine Lippen und pustete – so als würde er Blütenblätter in die Luft blasen. Als sein Atem den Raum durchquert hatte und den einsamen Wächter auf dem Sekretär erreichte, löste sich der Mann – das Ding – auf und verschwand vor seinen Augen, so wie Asche, die von einem Windstoß aufgewirbelt wurde. Er sah zu, wie die Bruchstücke langsam zu Boden glitten, und setzte sich auf, um ihre Bahn weiter verfolgen zu können. Doch sie waren verschwunden, aufgelöst wie Regentropfen auf heißen Kohlen. Nachdem er eine Weile auf die Stelle gestarrt hatte, an der die Asche verschwunden war, erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Etwas Kleines, Dünnes und Fremdartiges lag da zwischen den alten Dielen. Vorsichtig rollte er aus dem Bett und schlurfte näher heran. Er ging in die Knie, erkannte dann sofort, was es war, und machte vor Schreck einen Satz zurück. Es war ein Zeigefinger, ziemlich klein, als würde er zu einem Kind gehören, und irgendwie deformiert, wie durch Arthritis oder eine medizinische Abnormität. Wie das Wesen, das in diesem Loch auf ihn hinab geblickt hatte, wirkte er irgendwie unfertig, noch im Werden, nicht wirklich ausgewachsen. Sein Herz schlug laut, als er sich hinhockte, um das Ding genauer zu inspizieren. Doch zuerst warf er einen Blick auf die Zimmerdecke, in der Hoffnung, eine Stelle zu finden, durch die der Finger gefallen sein könnte. Da waren zwar einige Risse in den alten Deckenplatten, aber keiner war groß genug dafür. Trotzdem, dachte er bei sich, sah es so aus, als wäre er von oben fallen gelassen worden – wie ein Stück Abfall. Langsam streckte er seine Hand nach dem Finger aus, der plötzlich zu einer ganzen Hand wurde, die sich dann zur Faust ballte. Ohne jegliche Warnung zerbarsten die Dielen mit lautem Krachen, als eine wahre Flut weiterer Hände und Arme aus dem Unterboden emporschnellte – sie tasteten, griffen ihn mit ihren kleinen Fingerchen, ignorierten seine Schreie und zogen ihn hinab in das nun klaffende Loch. Ihre Gesichter und Körper waren in der Dunkelheit verborgen, doch sie knurrten ihn an, zerrten ihn weiter hinab in ihr finsteres Reich, wobei sein Körper sich verbog und brach, die Knochen zerbarsten, bevor er sich schließlich komplett auflöste – wobei seine Schreie endlich dadurch gestoppt wurden, dass eine Eruption von Blut und Galle seine Kehle zerfetzte.

      ***

      Diesmal erwachte Raymond in einem Busbahnhof. Er saß auf einer Gruppe von unglaublich unbequemen Plastikstühlen und fokussierte seinen Blick erst einmal auf das kleine Mädchen, das ihm direkt gegenübersaß. Es starrte ihn mit großen Augen an, ebenso die Mutter – das verriet ihm, dass sein abruptes Aufwachen ein ziemliches Spektakel gewesen sein musste.

       Die Kleine war niedlich und unschuldig, geradezu unbezahlbare Qualitäten. Er wusste sofort, dass sie keine Gefahr für ihn darstellte, aber Raymond wartete sicherheitshalber noch einen Augenblick, bis er wirklich wach war. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare und seufzte schwer. Seine Finger klebten anschließend vor Schweiß.

       Die Frau gegenüber legte schützend den Arm um ihre Tochter und warf Raymond einen strengen Blick zu. Er lächelte sie an, dann das kleine Mädchen. Da keine von beiden darauf reagierte, nickte er verständig, schnappte sich den Seesack, der zu seinen Füßen lag, und begab sich in Richtung Ausgang.

       Durch die Glastüren am Ende des Terminals sah er, dass es draußen regnete. Langsam Zeit zum Einsteigen, dachte er sich. Er warf sich den Seesack über die Schulter und schlurfte zum Ausgang, um einen besseren Blick auf die Straße zu erhalten. Dort standen jede Menge Autos herum, die nur darauf warteten, ausgeliehen zu werden. Ich bin noch nie gerne Bus gefahren.

       Als er draußen war, legte er den Kopf in den Nacken und ließ den Regen auf sein Gesicht prasseln. Dieses Ritual gab ihm jedes Mal ein Gefühl von Reinigung, von Wiedergeburt. Das war auch diesmal so, zumindest, bis er die Augen öffnete, sich das Wasser vom Gesicht wischte und sich wieder auf die Straße und die Menschen konzentrierte. Die Einsamen und die Verirrten, die Unwissenden und die Abgelenkten, alle hetzten ins Nichts, isoliert inmitten ihrer Artgenossen. Sie waren wie blinde Mäuse, die durch ein endloses Labyrinth rannten, das die meisten von ihnen nicht einmal wahrnehmen konnten. Er erinnerte sich an Peanut, eine Wüstenrennmaus, die er als Kind hatte. Wenn sie in ihrem Hamsterrad rannte, fragte er sich oft, ob sie wohl wusste, wo sie sich im Universum befand. Kannte sie den Unterschied zwischen der Enge ihres Käfigs und der riesigen Welt um sie herum? Fragte sie sich, was es noch alles auf der Erde gab, außer dem kleinen Zimmer, in dem Raymond sie manchmal herumrennen ließ, nachdem er sie gestreichelt hatte? Und interessierte sie all das überhaupt? Etwas blitze in Raymonds Hirn auf, eine Reflexion von der scharfen Klinge einer riesigen Axt, die in finsterer Nacht das glitzernde Mondlicht widerspiegelte. Als die Vision endete, trat Raymond vom Bordstein auf die Straße und überquerte sie mit langen, zielgerichteten Schritten. Ein Jahr war seit jener Nacht in der Hütte vergangen. Alles zu leugnen, war keine Option mehr. Er musste zurückgehen. Das wusste er jetzt. Er hatte keine Wahl.

      KAPITEL 4

      Etwas Unbedeutendes löste die Erinnerungen aus, und sie kamen in Bruchstücken zurück. Details wurden stärker, lebendiger und exakter, bis ein einzelner Moment in seinem Bewusstsein Halt fand.

       Schneeflocken.

       Erzähle mir, was du siehst, Seth. Die Stille der Nacht war erschüttert worden, und er wurde wach, als hätte man ihn geschüttelt. Die anderen Menschen im Raum schliefen fest, konnten ihn also nicht gestört haben. Trotzdem war er sich sicher, jemand hätte genau das gerade getan. Seine Augen untersuchten die Umgebung, so gut das aus einer liegenden Position ging: Schatten, Mondlicht – sonst nichts. Aber hinter dieser Dunkelheit verbarg sich etwas. Etwas, das man nicht anfassen, sehen oder gar hören konnte, das aber da war. Ganz sicher. Er hielt den Atem an und lauschte angestrengt in die Stille. Nach einer Weile konnte er Geräusche ausmachen, Klänge, die ihm vorher nicht aufgefallen waren. Ein kaum wahrnehmbares Kratzen, das gelegentlich aus dem tiefen Zischen des Grundrauschens hervorbrach. Bewegung. Er war sicher, dass diese Geräusche von Bewegungen hervorgerufen wurden. Kleinen Bewegungen. Schleichenden Bewegungen. Waren sie draußen vor der Tür? Oder schon näher dran? Bereits im Zimmer? Seine anfängliche Verwunderung wurde langsam zu blankem Entsetzen. Sein Herz hämmerte wie wild in seinem Brustkorb, und sein Körper wurde von Krämpfen durchgeschüttelt und schließlich komplett steif. Mit großer Mühe schaffte er es, seinen Mund zu öffnen, aber mehr als gedämpftes Grunzen und Stöhnen brachte er nicht zustande. Die Geräusche (waren es Schritte?) wurden lauter, energischer. Kamen näher. Er verdrehte die Augen in dem Versuch, so viel wie möglich von dem Raum erkennen zu können. Er wusste, dass sein Bruder eben noch nur ein paar Meter von ihm entfernt geschlafen hatte, aber jetzt war die Stelle leer. »Raymond?« Eine unscharfe Form bewegte sich in der Nähe und erweckte seine Aufmerksamkeit. Sie zischte außerhalb seines Sichtbereiches vorbei und änderte die Muster von Schatten und Mondlicht auf der gegenüberliegenden Wand. Inzwischen war er vollends der panischen Angst verfallen und versuchte noch einmal, zu schreien, aber außer einem kaum hörbaren Seufzen passierte nichts. Schlief er noch? War das vielleicht alles nur ein Albtraum? Auf mehrere Arten fühlte es sich wie ein Traum an – sowohl physisch als auch psychisch – und doch wusste er es; er wusste, dass er wach war. Er schloss seine Augen und presste sie fest zusammen, denn sehen wollte er nichts mehr. Nach einem Moment der Stille öffnete er sie dennoch langsam wieder. Dunkelheit kroch durch das Zimmer wie ein aufkommender Nebel. Raymond war noch immer fort, aber die anderen waren mit ihm zusammen in diesem Raum, völlig ungestört schlafend. Seth? Sag mir bitte, was du siehst. Vor wenigen Sekunden war doch noch etwas hier gewesen, da war er sich ganz sicher. Etwas Böses. Etwas nicht Menschliches. Die Finsternis verschlang alles, aber dieses Mal kehrte seine Sehkraft zurück, allerdings fokussierte sie sich auf eine andere Nacht, Jahre zuvor. »Ich sehe Raymond.« Und was macht Raymond, Seth? »Rennen … er … er rennt.« Rennst du auch? »Ja.« Was siehst du sonst noch? »Raymond weint. Er ist komplett panisch. Er – er hat so viel Angst, dass er komplett die Kontrolle über sich verloren hat.« Hast du auch Angst, Seth? »Ich weiß nicht, ich … ich meine, es ist so, als wäre ich gar nicht wirklich da, aber … ja.« Ist es Tag oder Nacht? »Nacht.« Was siehst du noch? »Es schneit. So ein leichter, fluffiger Schnee. Eigentlich ist das ganz schön. Ich versuche, mir den Schnee anzusehen, weil er so schön ist, aber … aber Raymond schreit und rennt und weint, und er wirkt so verloren, so …