***
Nachdem Seth die ruhige, sterile Lobby durchquert und den Parkplatz erreicht hatte, wehte ihm ein kalter Wind entgegen. Sein Gehirn, das immer noch in der Vergangenheit steckte, reagierte darauf mit kurzen Fetzen von Erinnerungen. Bilder, wie er mit Raymond durch eine kalte Nacht rannte. Er versuchte, ihn einzuholen, um ihm zu sagen, dass alles in Ordnung war. Aber selbst jetzt, so viele Jahre später, war er sich nicht sicher, ob alles in Ordnung war. Manche Menschen, zum Beispiel Doktor Farrow, schoben die Schuld auf obsessive oder neurotische Denkmuster und stressbasierte Ängste, die Folgen einer nie behandelten Depression oder anderer mentaler Probleme, aber Seth war sich da nicht so sicher.
In der Nacht, in der ihre Eltern gestorben waren, hatte sich alles verändert. Obwohl die nächtlichen Panikattacken, die Raymond als Kind hatte, bereits aufgehört hatten, eskalierten seine anderen Probleme in Folge. Er trieb weiter in seine Schwierigkeiten ab – Doktor Farrow würde sie »Verhaltensanomalien« nennen – und der kleine Junge, der er einst war, trudelte hinab in die Vergangenheit, wie ein Stück Abfall, das hilflos von einem gnadenlosen Wind weggetragen wurde. Und während um Raymond herum alles zerbröckelte, ertrank Seth in einer Flut aus Schuldgefühlen und Hilflosigkeit. Er war wütend auf sich selbst, auf Gott, auf die ganze Welt. Er versuchte, seine Gefühle so gut es ging abzuschotten, um überhaupt weiter machen zu können. Wie ein orientierungsloser und erschöpfter Schwimmer, der von der Strömung mitgerissen wird, gab er einfach nach und ließ sein Leben treiben. Er war sich sicher, dass das der einzige Weg war, sein Überleben zu ermöglichen, und damit hatte er recht.
Ein merkwürdiges Phänomen, das Überleben.
Der Tod hatte das, was von ihren Leben übrig war, in Stücke geschlagen, die wie Scherben auf sie herunterprasselten und nur Trümmer und Verwüstung hinterließen, wo einst etwas Gesundes, Schönes gewesen war. Und die Nacht in der Hütte hatte alles nur schlimmer gemacht, noch sinnloser und unlogischer als je zuvor.
Während des letzten Jahres waren die dunklen Gedanken und die formlosen Erinnerungen an diese finstere Nacht immer kraftvoller geworden. Es hatte ganz langsam angefangen, aber immer mehr an Fahrt gewonnen, bis zu einem Punkt, wo Seth wirklich an eine Geisteskrankheit zu glauben begonnen hatte. Falls dem so wäre, würde er dann in die gleiche bodenlose Grube stürzen, die bereits seinen Bruder verschlungen hatte?
An manchen Tagen hatte er das Gefühl, das wäre längst geschehen.
Als Seth sein Auto erreichte, blieb er stehen und schaute in den Himmel.
Ein Sturm braute sich zusammen.
KAPITEL 5
Regen lief die langen Fenster an der gegenüberliegenden Wand entlang und ließ den Parkplatz und die dahinter liegende Straße diffus erscheinen. Das Wasser bahnte sich seinen Weg von oben nach unten in völliger Stille, die Welt draußen war in diesem schallgedämmten Gebäudesarg einfach stumm geschaltet. Statt natürlicher Klänge drang kaum wahrnehmbare Muzak an sein Ohr, vermeintlich beruhigend wirkende Soft-Jazz-Kompositionen ohne jede Seele. Die Kollegen scherzten oft, das Büro sei wie ein Einkaufszentrum in der Hölle, wobei die meisten gar nicht merkten, dass in dieser Beschreibung eine ironische Redundanz steckte.
Seth unterdrückte bei diesem Gedanken ein Lächeln, dann zog er sein Headset vom Kopf, schaltete den Computer aus und verbrachte ein paar Minuten damit, seinen Schreibtisch in Ordnung zu bringen und ein wenig in seiner Arbeitskabine aufzuräumen. Er arbeitete seit zehn Jahren in der Kundenbetreuung der Severance Stereo Corporation, einem High End Hersteller für Heimelektronik. Vor vier Jahren war er zum stellvertretenden Abteilungsleiter befördert worden, aber die Geschäftsleitung befand ihn offensichtlich immer noch nicht für wichtig genug, ihm ein eigenes Büro zur Verfügung zu stellen. Seine Kabine war immerhin ein klein wenig geräumiger als die anderen, denn die Klassenunterschiede mussten ja irgendwo sichtbar sein.
»Früher Feierabend heute?«
Ein Kopf lugte über die Seitenwand seines Arbeitsplatzes. Es war Ruth Chandler, die erst seit ein paar Monaten in seiner Abteilung arbeitete, und sie bedachte ihn mit ihrem typischen, zynischen Lächeln. Sein erster Eindruck von Ruthilde, wie sie sich selbst nannte, war der einer nervigen Mittzwanzigerin, die ein bisschen zu aufdringlich versuchte, cool und rebellisch zu wirken. Inzwischen mochte er sie aber wirklich gerne. Irgendetwas an ihr wirkte total natürlich, wenn auch auf eine sehr merkwürdige Art und Weise. Egal, wie sarkastisch sie sich gab, war sie doch noch jung genug, um an das Grundkonzept von Hoffnung zu glauben – vor allem, wenn es um globale und universelle Dinge ging, und das wusste Seth zu schätzen. Sie kam zwar jeden Tag in den vorgeschriebenen Stoffhosen, Hemden oder Blusen gekleidet zur Arbeit, ließ aber immer etwas von ihrem privaten Ich durchblitzen. Das kleine Loch in der Nase, das man unter ihrem Büro-Make-up auf den ersten Blick gar nicht sah, beherbergte zum Beispiel in ihrer Freizeit einen Diamantstecker. Ihre vier Tattoos, die er allerdings nur aus ihren Beschreibungen kannte, blieben hingegen immer unter der sorgfältig gepflegten Businessfassade versteckt. Ihre Augen waren immer von schwarzem Eyeliner umrandet, nie zu stark natürlich, und ihr Lippenstift verpasste ihrem Aussehen einen Retrotouch, denn er war meistens extrem rot und bildete so einen intensiven Kontrast zu ihrem tiefschwarz gefärbten Haar, das zu einem Pagenschnitt mit Pony frisiert war. Sie war eher niedlich als schön, hatte aber eine interessante Ausstrahlung, sowie Augen, die weitaus mehr Tiefe offenbarten, als man auf den ersten Blick ahnen würde. Ihren Körper stellte sie nie in den Vordergrund, trotzdem drehten sich die meisten Köpfe im Büro nach ihr um. Sie war strenge Vegetarierin und widmete einen Großteil ihrer Freizeit den Veranstaltungen sozialer und politischer Organisationen. Sämtliche damit verbundenen Abenteuer erzählte sie sofort immer Seth, mit dem sie schon recht früh Freundschaft geschlossen hatte. Er fragte sich oft, warum sie ihn so mochte und in ihm einen sympathischen Zuhörer zu sehen schien – obwohl er doch der Geschäftsleitung angehörte. Zunächst hatte er vermutet, es wäre einfach die räumliche Nähe, da ihr Arbeitsplatz gleich an seinen grenzte. Doch schon nach kurzer Zeit wurde ihm klar, dass sie eine Verbundenheit zu ihm spüren musste, ein Vertrauen, als würde er nicht nur sie verstehen, sondern auch diese Welt, in der sie